Die Frage der Woche
Franz Kafka, um mit einem ganz berühmten Beispiel zu beginnen, erzählt nahezu ausschließlich aus Sicht einer einzigen Person in der jeweiligen Geschichte. Nehmen Sie etwa seinen Roman Der Prozess: Erzählt wird in der dritten Person, jedoch in strenger Anbindung an K., seiner Hauptfigur. Allein dessen Erleben bestimmt das, was wir Leser über die Geschichte erfahren. Damit sind wir dem unverständlichen Apparat genauso hilflos ausgeliefert wie K. selbst. Figur und Geschichte, beides kommt uns sehr nah, und wir können gar nicht anders, wir müssen uns mit K. identifizieren.
Ähnlich ausgeprägte Anbindungen an eine einzige Figur in der Geschichte findet man bei Ich-Erzählungen, denn naturgemäß kann so ein Ich-Erzähler nur von seinem Kenntnisstand aus und aus seiner Sicht heraus berichten. Naheliegend, dass viele Ich-Erzähler ihre eigene Geschichte erzählen, also zugleich die Hauptfigur sind: Thomas Manns Felix Krull schreibt in Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull seine eigenen Memoiren, während Nell Zinks Tiffany in The Wallcreeper (deutsch: Der Mauerläufer) ganz ohne einen solchen Schreib-Vorwand aus ihrer Sicht ihre Geschichte erzählt.
Eine scheinbar eindeutige Antwort auf die Frage, wessen Geschichte von wem erzählt wird, ist der Anfang von Hermann Melvilles Moby Dick: „Nennt mich Ismael“, lautet der erste Satz des Romans. Allerdings ist Ismael, der Ich-Erzähler, hier nicht die Hauptfigur, sondern ein Zeuge oder Betroffener der Geschichte. Deren Verlauf jedoch bestimmt Kapitän Ahab mit seiner Gier, sich am weißen Wal Moby Dick zu rächen. Diese Aufteilung „Hauptfigur dort, Ich-Erzähler hier“ kennen Krimifans natürlich bestens – nämlich von Sir Arthur Conan Doyles fiktionalem Duo Sherlock Holmes (Hauptfigur) und Dr. Watson (Ich-Erzähler). Dennoch bleiben auch diese Varianten monoperspektivisch, denn alles, was erzählt wird, entspricht nur dem Blickwinkel des jeweiligen Erzählers, der über die inneren Motive der Hauptfigur (und aller anderen Figuren) genau wie der Leser nur spekulieren kann.
Die Möglichkeit, eine Geschichte aus Sicht verschiedener Figuren zu erzählen – also multiperspektivisch, aus verschiedenen Erzählperspektiven – und dabei die Weltsichten der Figuren unmittelbar aufeinander prallen zu lassen, dürfte mit zu den zentralen Bausteinen des Schreibhandwerks gehören, der einen Text aus Autoren- wie Lesersicht reizvoll macht.
Manches lässt sich nur multiperspektivisch erzählen: etwa wie unterschiedlich wir alle die Welt wahrnehmen und wie oft uns nicht mal in den Sinn kommt, dass andere die Sache anders sehen könnten. Im realen Leben mag das häufig zu unangenehmen Missverständnissen führen. In der Literatur kann das zum Quell für Komik und Ironie, aber auch tiefere Erkenntnis werden. Die Geschichte von Ratte, dem Junkie mit Helfersyndrom, und der verdeckten Ermittlerin Charlie mitsamt ihren manischen Zügen hätte ich jedenfalls nie aus nur einer Sicht erzählen können. Denn in meinem Roman Rattes Gift geht es darum, dass die beiden die brenzlige Situation, in der sie stecken, nur überleben können, wenn sie zusammenarbeiten – und dafür müssen sie lernen, wie der andere die Welt sieht. Okay, und kapieren, dass sie sich verliebt haben, müssen sie auch. Denn Liebe ist ja ebenfalls etwas, das aus Sicht jedes Beteiligten sehr unterschiedlich wahrgenommen werden kann ... Kurzum: Ein Roman, in dem es um gegenseitiges Sehen geht und in dem die Beziehung zwischen den Figuren essentiell ist, lässt sich oft im Wechsel der entsprechenden Figurenperspektiven am besten erzählen.
Kleiner Tipp am Rande: Wenn man nicht sicher ist, ob einem das multiperspektivische Erzählen liegt, kann man es ja einfach mal für ein, zwei Kapitel ausprobieren. Und dann kann man auch gleich testen, ob man seine Figurenperspektiven lieber in der dritten Person gestalten möchte oder ob es zwei Ich-Erzähler sein müssen. In meinem Debüt, der Kriminalnovelle Der Tod ist ein langer, trüber Fluss, war das die Lösung. Nur, indem ich Ophelia, die Frau ohne Gedächtnis, die die Toten hört, und ihren toten 'Begleiter' Raffael als Ich-Erzähler auftreten lasse, kann ich dem Leser die Freiheit lassen, wie er diese nun, sagen wir, nicht ganz alltägliche Situation deutet. Wenn ein „ich“ spricht, geht es um die Erfahrungen und Ansichten eines Individuums, um etwas radikal Subjektives. Der Autor tritt still und leise hinter den Ansichten und Wahrnehmungen der Figur zurück, und der Leser ist gefordert, sich selbst seinen Reim darauf zu machen.
Die Möglichkeit, einerseits aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen und mit dem darin enthaltenen Potenzial für komische, tragische, ironische und andere Missverständnisse zu spielen, und andererseits komplett hinter seinen Geschöpfen zurückzutreten und obendrein dem Ganzen auch noch den Anstrich von Authentizität, ja 'Realität' zu geben, dürfte der Grund sein, warum das multiperspektivische Erzählen im ausgehenden 18.Jahrhundert mit einer ganz besonderen Gattung begann – nämlich als Briefroman.
Der Briefroman hat den Vorteil, dass sich auf der einen Seite das Material des Romans gewissermaßen selbst erklärt – zwei oder mehr Menschen schreiben einander Briefe und schildern darin ihr Erleben mit ihrer hoffentlich jeweils individuellen Sprache und aus ihrem ganz eigenen, jeweils begrenzten Blickwinkel. Auf der anderen Seite lässt das Raum für allerlei Verwechslungen (insbesondere, wenn Briefe verlorengehen), und haben wir es mit mehr als zwei Briefschreibern zu tun, lassen sich allein dadurch, wer wem was wie sagt oder eben auch verschweigt, ganz hervorragend Intrigen und andere fiese Machenschaften darstellen – siehe etwa Choderlos de Laclos Liasions dangereux (deutsch: Gefährliche Liebschaften - wobei ich hier natürlich das Buch und nicht die eine oder andere Verfilmung meine). Außerdem zeichnet sich der Briefroman durch besonders große Unmittelbarkeit aus, wie man etwa an der teils schon hysterischen, teils sogar tödlichen Begeisterung von Goethes Zeitgenossen für dessen Briefroman Die Leiden des jungen Werther sehen kann. Vermutlich hat das Gefühl, als Leser direkt dabei zu sein, dem Briefschreiber sozusagen über die Schulter zu spähen, auch dem Erfolg von Daniel Glattauers Gut gegen Nordwind nicht geschadet.
Grundvoraussetzung für einen gelungenen Briefroman, ob nun altmodisch auf Papier, als E-Mail-Variante oder Whatsapp-Gruppe der literarischen Art konzipiert ist, dass jede, aber auch jede schreibende Figur eine eigene Sprache und einen eigenen Blickwinkel hat. Das heißt, gerade beim multiperspektivischen Roman ist es essentiell, dass ich als Autor ganz genau weiß, welche Figur was wann weiß und wer welcher falschen Fährte wann folgt.
Das gilt unabhängig davon, ob ich meinem Leser gegenüber mit dem Rahmen eines Briefromans die Situation, in der meine jeweiligen Ich-Erzähler schreiben, ganz klar vor Augen führe oder meine Ich-Erzähler ohne solches 'Stützwerk' abwechselnd berichten lasse. In seinem furiosen Du bist zu schnell lässt Zoran Drvenkar die verschiedenen Sichtweisen von Theo, Marek und vor allem der psychotischen Val unmittelbar aufeinanderkrachen. Was Realität, was Psychose, was Drogen geschuldet ist oder einfach nur eine Fehlinterpretation aufgrund fehlenden Wissens ist, gleich auf drei verschiedene Achterbahnen wird der Leser hier im Wechsel gesetzt - die natürlich am Ende ein Ganzes ergeben.
Drvenkar überschreibt seine Kapitel noch mit dem Namen des jeweiligen Ich-Erzählers. Bei meinem Roman Stimmengewirr, das den Leser ins Innenleben einer Multiplen Persönlichkeit mitnimmt, schien mir das weder passend noch nötig. So, wie die einzelnen Persönlichkeiten sich immer wieder nach den Zeitlücken, die durch das Switchen untereinander entstehen, orientieren müssen, lernt auch der Leser, meine sieben Ich-Erzähler immer schneller und leichter zu unterscheiden. Allerdings hat diesen Effekt zu erzeugen mich eine Menge Zeit und Arbeit gekostet. Ich musste dafür in die Entwicklung jeder einzelnen Figur, die auch als Ich-Erzähler auftritt, noch mehr Zeit stecken als sonst - und ich habe das fertige Manuskript gleich zwei Mal komplett zerlegt, um mir die Geschichte aus den jeweiligen Einzel-Ich-Ansichten noch einmal anzuschauen und gründlich zu überarbeiten: War die Geschichte jedes Ich-Erzählers in sich stimmig? Blieb jeder während seines Berichts in seinem jeweiligen Wissensstand und, vor allem, in seiner ganz eigenen, individuellen Sicht- und Sprechweise? Kein Wunder, dass bei dem Buch über zehn Jahre zwischen dem ersten Satz und dem Erscheinen lagen ...
Nun könnte man meinen, wenn man multiperspektivisch in der dritten Person schreibt, gäbe es keine Orientierungsprobleme, weil man dann einfach jeden personalen Erzähler, jede Perspektivfigur beim Namen nennen kann. Und außerdem, so könnte man weiterdenken, sei man damit einer Schwierigkeit enthoben, die bei Texten aus Sicht nur einer einzigen Figur auftreten: dass diese nicht immer alles wissen kann, was wir als Autoren gerade meinen, unseren Lesern erzählen zu müssen. Wer hier nicht weiter nachdenkt, tappt schnell in eine Falle, die gute Ideen zu schlechten Büchern machen kann.
Wenn ich mir Standard-Thriller und -Krimis anschaue, habe ich oft den Eindruck, die Autoren wollen es sich einerseits leicht und andererseits ihr Buch besonders spannend machen, indem sie nach Gusto zwischen Ermittlerteam, Opfern, Zeugen, falschen Verdächtigen und gern auch dem (anonymisierten) Täter hin und her springen. Wenn es gut gemacht ist, kann das die Leser mitnehmen. Aber das funktioniert nur dann, wenn der Autor nicht nur seine Geschichte, sondern vor allem seine Figuren ganz besonders gut kennt und sich sicher im Plot bewegt. Denn damit ich als Leser mitfiebern kann, muss ich nicht nur orientiert bleiben zwischen all den Figurenperspektiven, es müssen mich auch idealerweise alle Figuren emotional berühren. Und dafür muss sich der Autor die Mühe machen, sich auf alle Figuren, aus deren Sicht er erzählen will, auch wirklich einzulassen. Sonst bleibt das Ganze eine oberflächliche Scharade, ein bisschen wie Kasperletheater für Erwachsene, bei denen der Leser immer mal wieder das Krokodil kommen sieht oder den Polizisten, bevor das Sepperl oder die Gretel das auch nur ahnen.
Aber wenn sich jemand die Mühe macht, aus all den einzelnen Figurenperspektiven ein Ganzes (also eine Perspektivstruktur) zu entwickeln, dann können multiperspektivische Erzählungen auch und erst recht in der dritten Person nicht nur Bestseller werden (wie die Thriller von Sebastian Fitzek oder Dan Brown), sondern hohe Kunst sein. Achten Sie einfach mal bei den nächsten Büchern, die Sie lesen, darauf, wer die Hauptfigur ist und aus wessen Sicht erzählt wird – und eben darauf, ob es sich um mono- oder multiperspektivisches Erzählen handelt.
Und weil man am besten von den Besten lernt, zum guten Schluss hier noch zwei Buchtipps:
The Taking of Pelham One Two Three (1973), der Thriller um die Entführung einer New Yorker U-Bahn, den Morton Freedgood unter dem Pseudonym John Godey veröffentlichte, kennen die meisten vermutlich aus einer der verschiedenen Verfilmung. Der an sich schon spannenden Geschichte fügt der Roman (deutsche Übersetzung: Abfahrt Pelham 1 Uhr 23) über die Perspektivstruktur noch ein weiteres Element hinzu: Als Leser kennen wir nur die Alias-Namen der Täter im Zug, wir wissen nicht, wie sie aussehen. Obwohl wir erleben, dass sie da sind, und erfahren, was sie vorhaben, wissen wir nicht, wer wer ist. Das heißt, hier gelingt es über den Mix aus Figurenperspektiven den Leser einerseits tief in die Gedanken und Pläne der (Täter-) Figuren blicken zu lassen und ihnen doch so ausgeliefert zu sein wie die Geiseln bzw. ein den Ermittlern ähnliches Problem bei deren Identifizierung zu haben.
Wer es literarischer mag, dem sei Virginia Woolfs Roman The Waves (deutsch: Die Wellen) aus dem Jahr 1931 empfohlen. Mithilfe der Gedankenströme von sechs Figuren, allesamt Freunde, wird nicht nur das Wesen dieser sechs Individuen und ihrer Freundschaft erkundet, es wird zugleich die Geschichte eines abwesenden siebten, der selbst nie zum aktiven Sprecher wird, erzählt. Ein meisterhaftes und poetisches Verfahren.
Haben Sie Vergnügen beim Lesen! Von dem Sie sich zu eigenen Experimenten inspirieren lassen sollten. Denn, Sie wissen ja: Schreiben lernt man nur durchs Schreiben ...
Was bedeutet „multiperspektivisches Erzählen“?
von Mischa Bach
Bevor wir uns diese Frage widmen können, müssen wir erst eimal
definieren, was Perspektive in Bezug auf eine Erzählung meint. Eine
Geschichte zu erzählen (oder zu schreiben), bedeutet immer, dies aus
einem bestimmten Blickwinkel, einer bestimmbaren Perspektive heraus zu
tun. Dabei geht es nicht darum, von welchem Standpunkt man sich als
Autor der Sache nähert (selbst ein allwissender oder auktorialer
Erzähler, über den wir an anderer Stelle noch zu reden haben werden, ist
nicht einfach ein Abbild des realen Autors im Text). Es geht um die
Perspektiven der Erzählung selbst: Wessen Geschichte ist es und wer
erzählt sie – das ist die Frage, die man sich vor dem Schreiben stellen
und beantworten muss.
Franz Kafka, um mit einem ganz berühmten Beispiel zu beginnen, erzählt nahezu ausschließlich aus Sicht einer einzigen Person in der jeweiligen Geschichte. Nehmen Sie etwa seinen Roman Der Prozess: Erzählt wird in der dritten Person, jedoch in strenger Anbindung an K., seiner Hauptfigur. Allein dessen Erleben bestimmt das, was wir Leser über die Geschichte erfahren. Damit sind wir dem unverständlichen Apparat genauso hilflos ausgeliefert wie K. selbst. Figur und Geschichte, beides kommt uns sehr nah, und wir können gar nicht anders, wir müssen uns mit K. identifizieren.
Ähnlich ausgeprägte Anbindungen an eine einzige Figur in der Geschichte findet man bei Ich-Erzählungen, denn naturgemäß kann so ein Ich-Erzähler nur von seinem Kenntnisstand aus und aus seiner Sicht heraus berichten. Naheliegend, dass viele Ich-Erzähler ihre eigene Geschichte erzählen, also zugleich die Hauptfigur sind: Thomas Manns Felix Krull schreibt in Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull seine eigenen Memoiren, während Nell Zinks Tiffany in The Wallcreeper (deutsch: Der Mauerläufer) ganz ohne einen solchen Schreib-Vorwand aus ihrer Sicht ihre Geschichte erzählt.
Eine scheinbar eindeutige Antwort auf die Frage, wessen Geschichte von wem erzählt wird, ist der Anfang von Hermann Melvilles Moby Dick: „Nennt mich Ismael“, lautet der erste Satz des Romans. Allerdings ist Ismael, der Ich-Erzähler, hier nicht die Hauptfigur, sondern ein Zeuge oder Betroffener der Geschichte. Deren Verlauf jedoch bestimmt Kapitän Ahab mit seiner Gier, sich am weißen Wal Moby Dick zu rächen. Diese Aufteilung „Hauptfigur dort, Ich-Erzähler hier“ kennen Krimifans natürlich bestens – nämlich von Sir Arthur Conan Doyles fiktionalem Duo Sherlock Holmes (Hauptfigur) und Dr. Watson (Ich-Erzähler). Dennoch bleiben auch diese Varianten monoperspektivisch, denn alles, was erzählt wird, entspricht nur dem Blickwinkel des jeweiligen Erzählers, der über die inneren Motive der Hauptfigur (und aller anderen Figuren) genau wie der Leser nur spekulieren kann.
Die Möglichkeit, eine Geschichte aus Sicht verschiedener Figuren zu erzählen – also multiperspektivisch, aus verschiedenen Erzählperspektiven – und dabei die Weltsichten der Figuren unmittelbar aufeinander prallen zu lassen, dürfte mit zu den zentralen Bausteinen des Schreibhandwerks gehören, der einen Text aus Autoren- wie Lesersicht reizvoll macht.
Manches lässt sich nur multiperspektivisch erzählen: etwa wie unterschiedlich wir alle die Welt wahrnehmen und wie oft uns nicht mal in den Sinn kommt, dass andere die Sache anders sehen könnten. Im realen Leben mag das häufig zu unangenehmen Missverständnissen führen. In der Literatur kann das zum Quell für Komik und Ironie, aber auch tiefere Erkenntnis werden. Die Geschichte von Ratte, dem Junkie mit Helfersyndrom, und der verdeckten Ermittlerin Charlie mitsamt ihren manischen Zügen hätte ich jedenfalls nie aus nur einer Sicht erzählen können. Denn in meinem Roman Rattes Gift geht es darum, dass die beiden die brenzlige Situation, in der sie stecken, nur überleben können, wenn sie zusammenarbeiten – und dafür müssen sie lernen, wie der andere die Welt sieht. Okay, und kapieren, dass sie sich verliebt haben, müssen sie auch. Denn Liebe ist ja ebenfalls etwas, das aus Sicht jedes Beteiligten sehr unterschiedlich wahrgenommen werden kann ... Kurzum: Ein Roman, in dem es um gegenseitiges Sehen geht und in dem die Beziehung zwischen den Figuren essentiell ist, lässt sich oft im Wechsel der entsprechenden Figurenperspektiven am besten erzählen.
Kleiner Tipp am Rande: Wenn man nicht sicher ist, ob einem das multiperspektivische Erzählen liegt, kann man es ja einfach mal für ein, zwei Kapitel ausprobieren. Und dann kann man auch gleich testen, ob man seine Figurenperspektiven lieber in der dritten Person gestalten möchte oder ob es zwei Ich-Erzähler sein müssen. In meinem Debüt, der Kriminalnovelle Der Tod ist ein langer, trüber Fluss, war das die Lösung. Nur, indem ich Ophelia, die Frau ohne Gedächtnis, die die Toten hört, und ihren toten 'Begleiter' Raffael als Ich-Erzähler auftreten lasse, kann ich dem Leser die Freiheit lassen, wie er diese nun, sagen wir, nicht ganz alltägliche Situation deutet. Wenn ein „ich“ spricht, geht es um die Erfahrungen und Ansichten eines Individuums, um etwas radikal Subjektives. Der Autor tritt still und leise hinter den Ansichten und Wahrnehmungen der Figur zurück, und der Leser ist gefordert, sich selbst seinen Reim darauf zu machen.
Die Möglichkeit, einerseits aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen und mit dem darin enthaltenen Potenzial für komische, tragische, ironische und andere Missverständnisse zu spielen, und andererseits komplett hinter seinen Geschöpfen zurückzutreten und obendrein dem Ganzen auch noch den Anstrich von Authentizität, ja 'Realität' zu geben, dürfte der Grund sein, warum das multiperspektivische Erzählen im ausgehenden 18.Jahrhundert mit einer ganz besonderen Gattung begann – nämlich als Briefroman.
Der Briefroman hat den Vorteil, dass sich auf der einen Seite das Material des Romans gewissermaßen selbst erklärt – zwei oder mehr Menschen schreiben einander Briefe und schildern darin ihr Erleben mit ihrer hoffentlich jeweils individuellen Sprache und aus ihrem ganz eigenen, jeweils begrenzten Blickwinkel. Auf der anderen Seite lässt das Raum für allerlei Verwechslungen (insbesondere, wenn Briefe verlorengehen), und haben wir es mit mehr als zwei Briefschreibern zu tun, lassen sich allein dadurch, wer wem was wie sagt oder eben auch verschweigt, ganz hervorragend Intrigen und andere fiese Machenschaften darstellen – siehe etwa Choderlos de Laclos Liasions dangereux (deutsch: Gefährliche Liebschaften - wobei ich hier natürlich das Buch und nicht die eine oder andere Verfilmung meine). Außerdem zeichnet sich der Briefroman durch besonders große Unmittelbarkeit aus, wie man etwa an der teils schon hysterischen, teils sogar tödlichen Begeisterung von Goethes Zeitgenossen für dessen Briefroman Die Leiden des jungen Werther sehen kann. Vermutlich hat das Gefühl, als Leser direkt dabei zu sein, dem Briefschreiber sozusagen über die Schulter zu spähen, auch dem Erfolg von Daniel Glattauers Gut gegen Nordwind nicht geschadet.
Grundvoraussetzung für einen gelungenen Briefroman, ob nun altmodisch auf Papier, als E-Mail-Variante oder Whatsapp-Gruppe der literarischen Art konzipiert ist, dass jede, aber auch jede schreibende Figur eine eigene Sprache und einen eigenen Blickwinkel hat. Das heißt, gerade beim multiperspektivischen Roman ist es essentiell, dass ich als Autor ganz genau weiß, welche Figur was wann weiß und wer welcher falschen Fährte wann folgt.
Das gilt unabhängig davon, ob ich meinem Leser gegenüber mit dem Rahmen eines Briefromans die Situation, in der meine jeweiligen Ich-Erzähler schreiben, ganz klar vor Augen führe oder meine Ich-Erzähler ohne solches 'Stützwerk' abwechselnd berichten lasse. In seinem furiosen Du bist zu schnell lässt Zoran Drvenkar die verschiedenen Sichtweisen von Theo, Marek und vor allem der psychotischen Val unmittelbar aufeinanderkrachen. Was Realität, was Psychose, was Drogen geschuldet ist oder einfach nur eine Fehlinterpretation aufgrund fehlenden Wissens ist, gleich auf drei verschiedene Achterbahnen wird der Leser hier im Wechsel gesetzt - die natürlich am Ende ein Ganzes ergeben.
Drvenkar überschreibt seine Kapitel noch mit dem Namen des jeweiligen Ich-Erzählers. Bei meinem Roman Stimmengewirr, das den Leser ins Innenleben einer Multiplen Persönlichkeit mitnimmt, schien mir das weder passend noch nötig. So, wie die einzelnen Persönlichkeiten sich immer wieder nach den Zeitlücken, die durch das Switchen untereinander entstehen, orientieren müssen, lernt auch der Leser, meine sieben Ich-Erzähler immer schneller und leichter zu unterscheiden. Allerdings hat diesen Effekt zu erzeugen mich eine Menge Zeit und Arbeit gekostet. Ich musste dafür in die Entwicklung jeder einzelnen Figur, die auch als Ich-Erzähler auftritt, noch mehr Zeit stecken als sonst - und ich habe das fertige Manuskript gleich zwei Mal komplett zerlegt, um mir die Geschichte aus den jeweiligen Einzel-Ich-Ansichten noch einmal anzuschauen und gründlich zu überarbeiten: War die Geschichte jedes Ich-Erzählers in sich stimmig? Blieb jeder während seines Berichts in seinem jeweiligen Wissensstand und, vor allem, in seiner ganz eigenen, individuellen Sicht- und Sprechweise? Kein Wunder, dass bei dem Buch über zehn Jahre zwischen dem ersten Satz und dem Erscheinen lagen ...
Nun könnte man meinen, wenn man multiperspektivisch in der dritten Person schreibt, gäbe es keine Orientierungsprobleme, weil man dann einfach jeden personalen Erzähler, jede Perspektivfigur beim Namen nennen kann. Und außerdem, so könnte man weiterdenken, sei man damit einer Schwierigkeit enthoben, die bei Texten aus Sicht nur einer einzigen Figur auftreten: dass diese nicht immer alles wissen kann, was wir als Autoren gerade meinen, unseren Lesern erzählen zu müssen. Wer hier nicht weiter nachdenkt, tappt schnell in eine Falle, die gute Ideen zu schlechten Büchern machen kann.
Wenn ich mir Standard-Thriller und -Krimis anschaue, habe ich oft den Eindruck, die Autoren wollen es sich einerseits leicht und andererseits ihr Buch besonders spannend machen, indem sie nach Gusto zwischen Ermittlerteam, Opfern, Zeugen, falschen Verdächtigen und gern auch dem (anonymisierten) Täter hin und her springen. Wenn es gut gemacht ist, kann das die Leser mitnehmen. Aber das funktioniert nur dann, wenn der Autor nicht nur seine Geschichte, sondern vor allem seine Figuren ganz besonders gut kennt und sich sicher im Plot bewegt. Denn damit ich als Leser mitfiebern kann, muss ich nicht nur orientiert bleiben zwischen all den Figurenperspektiven, es müssen mich auch idealerweise alle Figuren emotional berühren. Und dafür muss sich der Autor die Mühe machen, sich auf alle Figuren, aus deren Sicht er erzählen will, auch wirklich einzulassen. Sonst bleibt das Ganze eine oberflächliche Scharade, ein bisschen wie Kasperletheater für Erwachsene, bei denen der Leser immer mal wieder das Krokodil kommen sieht oder den Polizisten, bevor das Sepperl oder die Gretel das auch nur ahnen.
Aber wenn sich jemand die Mühe macht, aus all den einzelnen Figurenperspektiven ein Ganzes (also eine Perspektivstruktur) zu entwickeln, dann können multiperspektivische Erzählungen auch und erst recht in der dritten Person nicht nur Bestseller werden (wie die Thriller von Sebastian Fitzek oder Dan Brown), sondern hohe Kunst sein. Achten Sie einfach mal bei den nächsten Büchern, die Sie lesen, darauf, wer die Hauptfigur ist und aus wessen Sicht erzählt wird – und eben darauf, ob es sich um mono- oder multiperspektivisches Erzählen handelt.
Und weil man am besten von den Besten lernt, zum guten Schluss hier noch zwei Buchtipps:
The Taking of Pelham One Two Three (1973), der Thriller um die Entführung einer New Yorker U-Bahn, den Morton Freedgood unter dem Pseudonym John Godey veröffentlichte, kennen die meisten vermutlich aus einer der verschiedenen Verfilmung. Der an sich schon spannenden Geschichte fügt der Roman (deutsche Übersetzung: Abfahrt Pelham 1 Uhr 23) über die Perspektivstruktur noch ein weiteres Element hinzu: Als Leser kennen wir nur die Alias-Namen der Täter im Zug, wir wissen nicht, wie sie aussehen. Obwohl wir erleben, dass sie da sind, und erfahren, was sie vorhaben, wissen wir nicht, wer wer ist. Das heißt, hier gelingt es über den Mix aus Figurenperspektiven den Leser einerseits tief in die Gedanken und Pläne der (Täter-) Figuren blicken zu lassen und ihnen doch so ausgeliefert zu sein wie die Geiseln bzw. ein den Ermittlern ähnliches Problem bei deren Identifizierung zu haben.
Wer es literarischer mag, dem sei Virginia Woolfs Roman The Waves (deutsch: Die Wellen) aus dem Jahr 1931 empfohlen. Mithilfe der Gedankenströme von sechs Figuren, allesamt Freunde, wird nicht nur das Wesen dieser sechs Individuen und ihrer Freundschaft erkundet, es wird zugleich die Geschichte eines abwesenden siebten, der selbst nie zum aktiven Sprecher wird, erzählt. Ein meisterhaftes und poetisches Verfahren.
Haben Sie Vergnügen beim Lesen! Von dem Sie sich zu eigenen Experimenten inspirieren lassen sollten. Denn, Sie wissen ja: Schreiben lernt man nur durchs Schreiben ...
Mischa Bach alias Dr. Michaela Bach ist nicht nur Autorin und Drehbuchautorin, sondern auch Dramatikerin, Übersetzerin und Sachbuchautorin. Ihre einfühlsamen und präzisen Texte wurden mit dem Martha-Saalfeld-Preis ausgezeichnet und für den Glauser-Preis nominiert. Die promovierte Filmwissenschaftlerin arbeitet außerdem als Dozentin und als Lektorin, unterrichtet Literaturwissenschaft an der Universität Essen und gibt immer wieder Schreibkurse für werdende Autoren.
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