Schreibregel der Woche

© Autorenfoto: Hocky Neubert
Haben Sie irgendwann ein Tagebuch geführt? Früher, vielleicht als Teenager? Während heftigster, pubertärer Lebensphase, in der Sie sich von aller Welt verlassen und unverstanden fühlten? Haben Sie in Ihrem Tagebuch Dinge festgehalten, die Sie – zu jener Zeit zumindest – niemandem sonst anvertraut hätten?
Und dann fällt eines Tages Ihr Tagebuch den Eltern in die Hände. Oder dem garstigen Bruder oder der zickigen Schwester...
Nur die Gedanken sind frei. Was du einmal geschrieben hast, ist in Stein gemeißelt und macht dich auf ewig angreifbar – selbst, wenn du es gar nicht so gemeint hast.
von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Haben Sie irgendwann ein Tagebuch geführt? Früher, vielleicht als Teenager? Während heftigster, pubertärer Lebensphase, in der Sie sich von aller Welt verlassen und unverstanden fühlten? Haben Sie in Ihrem Tagebuch Dinge festgehalten, die Sie – zu jener Zeit zumindest – niemandem sonst anvertraut hätten?
Und dann fällt eines Tages Ihr Tagebuch den Eltern in die Hände. Oder dem garstigen Bruder oder der zickigen Schwester...
Leider gibt es im Tagebuch kritische Passagen bezüglich der aus Ihrer Sicht nur vermeintlich heilen Familienwelt: Und schon tagt das Tribunal. Während Ihre Eltern entweder besorgt oder ärgerlich reagieren, nehmen Ihre Geschwister Ihnen das Geschriebene nicht weiter übel, weil sie sowieso wissen, dass Sie sie garstig und zickig finden - was auf Gegenseitigkeit beruht. Dafür erzählen die Geschwister überall in der Schule herum, dass Sie unsterblich in die von allen Jungen umschwärmte Eva oder in den von sämtlichen Mädchen angehimmelten Adam verliebt sind. Zwecks Erhärtung dieser sensationellen Enthüllung zitieren Ihre Geschwister, die ansonsten zu dämlich sind, auch nur eine Gedichtstrophe im Kopf zu behalten, vor versammelter Schulhofmeute auswendig und seitenweise die peinlichsten Stellen aus Ihrem Tagebuch.
Sie sind geliefert.
Bloß, weil Sie Ihre Gedanken aufgeschrieben haben, anstatt Ihren Weltschmerz diskret ins Kopfkissen zu heulen.
Mit dem Abstand vieler Jahre lässt es sich vielleicht über ein solches Erlebnis schmunzeln. Das hoffe ich zumindest für Sie. Besitzen Sie das alte Tagebuch noch? Oder Ihr Schulaufsatzheft von damals? Oder längere Briefe, die Sie einst geschrieben haben?
Hervorkramen und durchlesen, bitte.
Erkennen Sie sich wieder? Die junge Frau, den jungen Mann von damals? Vermutlich ja, im Großen und Ganzen, sofern Sie Ihre Vergangenheit nicht als völlig traumatisch empfunden und deshalb komplett verdrängt haben. Wahrscheinlich kommen Ihnen Erinnerungen hoch, die mit der damaligen Gefühlslage und Ihren früheren Lebensumständen zu tun haben. Ganz sicher jedoch fallen Ihnen Formulierungen auf, die Sie heute so nicht mehr schreiben würden. Auch inhaltlich stolpern Sie über Dinge, die Sie jetzt ganz anders sehen als damals. Sie sind mittlerweile um viele Erfahrungen reicher, Ihre Weltsicht ist eine andere als früher. Vielleicht nur in Nuancen, aber niemand lebt ein Leben, ohne sich zu entwickeln und sich zu verändern.
Nur das, was Sie geschrieben und aufbewahrt haben: das bleibt für immer genau so, wie Sie es einstmals zu Papier brachten.
Und wenn heute Ihrer Lebenspartnerin oder Ihrem Lebenspartner das alte Tagebuch oder der vergilbte Liebesbrief in die Hand fallen sollte, wird sie oder er vielleicht immer noch ein bisschen eifersüchtig auf Eva oder Adam werden, obwohl sie oder er Eva oder Adam gar nicht kennt. Was es für Partnerin oder Partner sogar noch schlimmer macht und jede Menge Raum für Spekulationen lässt. Plötzlich wird nicht mehr vernünftig differenziert zwischen dem Tagebuch- oder Liebesbriefschreiber von einst und dem Menschen von heute. Wenn es hart kommt, drohen problemorientierte Beziehungsdiskussionen epischen Ausmaßes.
Etwas geschrieben zu haben: das ist mehr, als es nur mal irgendwann gesagt zu haben. Das gilt für Tagebücher und Briefe. Erst recht für Doktorarbeiten – fragen Sie den ehemaligen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, dem 2011 nachgewiesen wurde, 23 gerichtlich festgestellte Textpassagen seiner Jahre zuvor eingereichten Promotionsarbeit aus anderen Quellen abgeschrieben zu haben. Der Minister musste prompt seinen Posten räumen.
In „Vor-Internet-Zeiten“ wäre ihm das kaum passiert. Die paar gedruckten Exemplare seiner Doktorarbeit wären ungelesen in abseitigen Archiven verstaubt. Niemand hätte sich die immens zeitaufwendige Mühe gemacht, einzelne Textpassagen sozusagen „in Handarbeit“ herauszusuchen, um sie mit entsprechenden Werken anderer Autoren zu vergleichen. Doch im Digitalzeitalter sind mehr und mehr Texte stets und überall verfügbar. Das Internet vergisst nichts, auch nicht Ihre Werke. Mails, Blogs, Vorträge, wissenschaftliche Arbeiten, Sachbücher, Romane – alles da, für immer. Suchmaschinen verkürzen die Recherche, filtern abgeschriebene Textpassagen in Windeseile aus der globalen Buchstabensuppe heraus, und schon ist der Skandal offenkundig.
Man muss nicht einmal betrogen haben, damit das einst Geschriebene dem Schreiber vielleicht später zur peinlichen Last wird.
Als Schriftsteller vom Ertrag seiner Tätigkeit zu leben, ist meist ein finanzieller Drahtseilakt. Deshalb schreiben gar nicht wenige Profi-Autorinnen und -Autoren im Laufe ihrer Karriere hin und wieder Dinge, auf die sie vielleicht nicht so stolz sind, die aber immerhin bezahlt werden. Ich selbst habe beispielsweise (unter anderem …):
- für eine Illustrierte frei erfundene Horoskope geschrieben
- für einen Wirtschaftsboss mehrere Vorträge verfasst, die er auf hochkarätigen Veranstaltungen als hochdotierter Gast-Experte hielt (besonders viel Ahnung hatte ich vom Thema nie, aber wer wagt schon Kritik, wenn eine vermeintliche Kapazität Blech redet …)
- für ein Unterhaltungsmagazin, bestehend aus „garantiert wahren Schicksalsberichten“, sensationspralle Geschichten getextet – zum Beispiel eine knackige Lebensbeichte mit dem schönen Titel … ach nein, das verrate ich Ihnen besser nicht.
Würden Sie alles von mir wissen, würden Sie mich wahrscheinlich als Autor eines philosophisch-intellektuellen Werks mit höchstem Moralanspruch nicht mehr ernst nehmen – selbst wenn ich so etwas wirklich drauf hätte. Deshalb habe ich bei abseitigen Texten meine Spuren gründlich verwischt. Für solche Abstecher in die Niederungen des Autorendaseins schützt man seinen tatsächlichen Namen klugerweise durch die Wahl eines Pseudonyms. Sollten Sie selbst irgendwann einmal auch nur ein bisschen daran zweifeln, ob es vernünftig ist, einen selbstverfassten Text unter Ihrem Klarnamen zu veröffentlichen: Denken Sie sich lieber einen Decknamen aus. Der darf dann auch gleich besser klingen als der, mit dem Sie im Geburtsregister stehen. „Hera Lind“, zum Beispiel, klingt doch gleich wesentlich glamouröser und viel eher nach Erfolgsautorin als eine biedere „Herlind Wartenberg“.
Pseudonyme bieten gewissen Schutz vor den Folgen einstmals geschriebener und veröffentlichter Peinlichkeiten. Zudem helfen sie dabei, auch bei plötzlicher Popularität die Privatsphäre zu schützen. Denn gelingt Ihnen ein besonders erfolgreiches Werk, steht es genau wie die Peinlichkeiten der Vergangenheit künftig immer mit Ihrem Namen in Verbindung.
Und vielleicht möchten Sie das gar nicht.
Wenn Sie nämlich, so wie ich, eine knackige, aber frei erfundene Lebensbeichte mit dem schönen Titel „Meine Frau schlägt mich!“ geschrieben haben, und Ihre Frau weiß davon gar nichts.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen

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Autorenportrait von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Sie sind geliefert.
Bloß, weil Sie Ihre Gedanken aufgeschrieben haben, anstatt Ihren Weltschmerz diskret ins Kopfkissen zu heulen.
Mit dem Abstand vieler Jahre lässt es sich vielleicht über ein solches Erlebnis schmunzeln. Das hoffe ich zumindest für Sie. Besitzen Sie das alte Tagebuch noch? Oder Ihr Schulaufsatzheft von damals? Oder längere Briefe, die Sie einst geschrieben haben?
Hervorkramen und durchlesen, bitte.
Erkennen Sie sich wieder? Die junge Frau, den jungen Mann von damals? Vermutlich ja, im Großen und Ganzen, sofern Sie Ihre Vergangenheit nicht als völlig traumatisch empfunden und deshalb komplett verdrängt haben. Wahrscheinlich kommen Ihnen Erinnerungen hoch, die mit der damaligen Gefühlslage und Ihren früheren Lebensumständen zu tun haben. Ganz sicher jedoch fallen Ihnen Formulierungen auf, die Sie heute so nicht mehr schreiben würden. Auch inhaltlich stolpern Sie über Dinge, die Sie jetzt ganz anders sehen als damals. Sie sind mittlerweile um viele Erfahrungen reicher, Ihre Weltsicht ist eine andere als früher. Vielleicht nur in Nuancen, aber niemand lebt ein Leben, ohne sich zu entwickeln und sich zu verändern.
Nur das, was Sie geschrieben und aufbewahrt haben: das bleibt für immer genau so, wie Sie es einstmals zu Papier brachten.
Und wenn heute Ihrer Lebenspartnerin oder Ihrem Lebenspartner das alte Tagebuch oder der vergilbte Liebesbrief in die Hand fallen sollte, wird sie oder er vielleicht immer noch ein bisschen eifersüchtig auf Eva oder Adam werden, obwohl sie oder er Eva oder Adam gar nicht kennt. Was es für Partnerin oder Partner sogar noch schlimmer macht und jede Menge Raum für Spekulationen lässt. Plötzlich wird nicht mehr vernünftig differenziert zwischen dem Tagebuch- oder Liebesbriefschreiber von einst und dem Menschen von heute. Wenn es hart kommt, drohen problemorientierte Beziehungsdiskussionen epischen Ausmaßes.
Etwas geschrieben zu haben: das ist mehr, als es nur mal irgendwann gesagt zu haben. Das gilt für Tagebücher und Briefe. Erst recht für Doktorarbeiten – fragen Sie den ehemaligen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, dem 2011 nachgewiesen wurde, 23 gerichtlich festgestellte Textpassagen seiner Jahre zuvor eingereichten Promotionsarbeit aus anderen Quellen abgeschrieben zu haben. Der Minister musste prompt seinen Posten räumen.
In „Vor-Internet-Zeiten“ wäre ihm das kaum passiert. Die paar gedruckten Exemplare seiner Doktorarbeit wären ungelesen in abseitigen Archiven verstaubt. Niemand hätte sich die immens zeitaufwendige Mühe gemacht, einzelne Textpassagen sozusagen „in Handarbeit“ herauszusuchen, um sie mit entsprechenden Werken anderer Autoren zu vergleichen. Doch im Digitalzeitalter sind mehr und mehr Texte stets und überall verfügbar. Das Internet vergisst nichts, auch nicht Ihre Werke. Mails, Blogs, Vorträge, wissenschaftliche Arbeiten, Sachbücher, Romane – alles da, für immer. Suchmaschinen verkürzen die Recherche, filtern abgeschriebene Textpassagen in Windeseile aus der globalen Buchstabensuppe heraus, und schon ist der Skandal offenkundig.
Man muss nicht einmal betrogen haben, damit das einst Geschriebene dem Schreiber vielleicht später zur peinlichen Last wird.
Als Schriftsteller vom Ertrag seiner Tätigkeit zu leben, ist meist ein finanzieller Drahtseilakt. Deshalb schreiben gar nicht wenige Profi-Autorinnen und -Autoren im Laufe ihrer Karriere hin und wieder Dinge, auf die sie vielleicht nicht so stolz sind, die aber immerhin bezahlt werden. Ich selbst habe beispielsweise (unter anderem …):
- für eine Illustrierte frei erfundene Horoskope geschrieben
- für einen Wirtschaftsboss mehrere Vorträge verfasst, die er auf hochkarätigen Veranstaltungen als hochdotierter Gast-Experte hielt (besonders viel Ahnung hatte ich vom Thema nie, aber wer wagt schon Kritik, wenn eine vermeintliche Kapazität Blech redet …)
- für ein Unterhaltungsmagazin, bestehend aus „garantiert wahren Schicksalsberichten“, sensationspralle Geschichten getextet – zum Beispiel eine knackige Lebensbeichte mit dem schönen Titel … ach nein, das verrate ich Ihnen besser nicht.
Würden Sie alles von mir wissen, würden Sie mich wahrscheinlich als Autor eines philosophisch-intellektuellen Werks mit höchstem Moralanspruch nicht mehr ernst nehmen – selbst wenn ich so etwas wirklich drauf hätte. Deshalb habe ich bei abseitigen Texten meine Spuren gründlich verwischt. Für solche Abstecher in die Niederungen des Autorendaseins schützt man seinen tatsächlichen Namen klugerweise durch die Wahl eines Pseudonyms. Sollten Sie selbst irgendwann einmal auch nur ein bisschen daran zweifeln, ob es vernünftig ist, einen selbstverfassten Text unter Ihrem Klarnamen zu veröffentlichen: Denken Sie sich lieber einen Decknamen aus. Der darf dann auch gleich besser klingen als der, mit dem Sie im Geburtsregister stehen. „Hera Lind“, zum Beispiel, klingt doch gleich wesentlich glamouröser und viel eher nach Erfolgsautorin als eine biedere „Herlind Wartenberg“.
Pseudonyme bieten gewissen Schutz vor den Folgen einstmals geschriebener und veröffentlichter Peinlichkeiten. Zudem helfen sie dabei, auch bei plötzlicher Popularität die Privatsphäre zu schützen. Denn gelingt Ihnen ein besonders erfolgreiches Werk, steht es genau wie die Peinlichkeiten der Vergangenheit künftig immer mit Ihrem Namen in Verbindung.
Und vielleicht möchten Sie das gar nicht.
Wenn Sie nämlich, so wie ich, eine knackige, aber frei erfundene Lebensbeichte mit dem schönen Titel „Meine Frau schlägt mich!“ geschrieben haben, und Ihre Frau weiß davon gar nichts.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen

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