Schreibregel der Woche

© Autorenfoto: Hocky Neubert
Ein Albtraum, den jeder kennt: Sie sind Schüler, sitzen im Klassenraum und schreiben einen Aufsatz. Das heißt, Sie überlegen noch, was Sie schreiben sollen. Sämtliche Mitschüler legen eifrig los, alle Stifte flitzen hurtig übers Papier, nur nicht der Ihre. In Ihrem Kopf rasen die Gedanken, Sie erwägen fieberhaft alle möglichen Ansätze für die Aufsatz-Einleitung. Sie verwerfen einen nach dem anderen, bis im zerquälten Oberstübchen nur noch die Sekunden bis zum Pausengong herunterticken, lauter als die Bahnhofsuhr in „Zwölf Uhr mittags“...
Ohne Schreiben kein Text. Ohne Schreibdisziplin kein Buch.
von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Ein Albtraum, den jeder kennt: Sie sind Schüler, sitzen im Klassenraum und schreiben einen Aufsatz. Das heißt, Sie überlegen noch, was Sie schreiben sollen. Sämtliche Mitschüler legen eifrig los, alle Stifte flitzen hurtig übers Papier, nur nicht der Ihre. In Ihrem Kopf rasen die Gedanken, Sie erwägen fieberhaft alle möglichen Ansätze für die Aufsatz-Einleitung. Sie verwerfen einen nach dem anderen, bis im zerquälten Oberstübchen nur noch die Sekunden bis zum Pausengong herunterticken, lauter als die Bahnhofsuhr in „Zwölf Uhr mittags“...
In der ersten Reihe sammelt der Lehrer bereits die Hefte ein, irgendwo weiter hinten erstarren Sie im zähen Sumpf von Resignation, Selbstmitleid und dem sicheren Gefühl, wieder einmal komplett versagt zu haben. Das macht Sie dann dermaßen fertig, dass Sie sogar froh darüber sind, wenn in diesem Moment der Wecker klingelt, es sechs Uhr früh an einem nasskalten Novembermontag ist und bloß Ihr Job in der Tretmühle auf Sie wartet.
Sogar professionelle Schreiber sind vor diesem Albtraum nicht sicher. Er holt sie oft genug in der Realität ein, und dann rettet sie kein Wecker. Man sollte meinen, ein Schreibprofi weiß, was er zu schreiben hat. Falls nicht, könnte er ja den Auftrag ablehnen oder, falls er ihn bereits angenommen hat, kurzerhand absagen.
Das passiert allerdings fast nie, aus gutem Grund. Freischaffende Künstler sind finanziell eher selten auf Rosen gebettet. Selbst wenn, wissen sie nie, wie lange diese Glückssträhne währt. Ich kenne großartige Autoren, die seit Jahrzehnten sehr gut im Geschäft sind und trotzdem in tiefer Angst davor leben, übermorgen wieder dort zu sein, wo sie mal zu Beginn ihrer Karriere waren: chronisch pleite und ohne Aufträge.
Egal, ob etablierter Profi oder ambitioniertes Nachwuchstalent, kaum ein Autor lehnt einen angemessen honorierten Auftrag ab. Die Frage, ob einem das Projekt wirklich gefällt und ob man ihm gewachsen ist, stellt man sich lieber nicht oder beantwortet sie nicht ehrlich. Ebenso verdrängt man allzu gern bei der Vertragsunterschrift, dass es vielleicht noch weitere Projekte gibt, deren Abgabetermine sich überschneiden. Monatelang wollte keiner was von einem, plötzlich kommen mehrere Angebote aus verschiedenen Ecken. So ist es meistens. Und man sagt zu, weil man ahnt, dass danach wieder monatelang nichts läuft.
Schon ist der Albtraum programmiert.
Bald, sehr bald nach gegebener Zusage wird einem bewusst, dass man einem knüppelharten Arbeitsmarathon entgegensieht, an dessen Ende man möglicherweise trotz aller Mühen nicht durchs Ziel kommt. Vielleicht, hoffentlich, hat man ein paar Vorstellungen davon, wie man die erforderlichen Texte gestalten möchte. Aber man weiß, es wird heftig. Die Anstrengung wird einen fertigmachen und es wird weh tun.
Ich kenne mich selbst und außerdem eine Menge geschätzter Autorenkolleginnen und -kollegen. Deshalb kann ich Ihnen verraten, was die meisten Schreibprofis in dieser Situation tun:
Alles Mögliche. Vielleicht schreiben sie sogar. Allerdings eher nicht am drängendsten Problemprojekt.
Autoren sind von Berufs wegen fantasiebegabt. Und selten kreativer als in einer Situation, in der es gilt, eine Beschäftigung zu finden, die so dringend und unaufschiebbar ist, dass man unmöglich stattdessen am Problemprojekt schreiben könnte. „Prokrastination“ lautet das Fachwort für diesen Zustand. Für die Nicht-Lateiner unter uns: „procastrinare“ bedeutet vertagen, zusammengesetzt aus pro = für und cras = morgen. Gemeint ist das extreme Aufschieben eigentlicher Notwendigkeiten, und das gilt in verschärfter Ausprägung durchaus als pathologisches Krankheitsbild.
Bis zum zwangsweisen Klappsmühlenaufenthalt lassen es Autoren in der Regel nicht kommen, aber manchmal fehlt nicht viel. Das Gute dabei ist: Wer als Autor auf langjährige Selbsterfahrung mit der „Aufschieberitis“ zurückblickt, kennt seine persönlichen Macken und setzt sie im Idealfall sogar strategisch klug ein. Beispielsweise beginnt eine Drehbuchautorin aus meinem Freundeskreis unweigerlich ihren kompletten Haushalt inklusive Gemeinschaftstreppenhaus zu putzen, wenn sie eigentlich am Problemprojekt sitzen müsste. Sie putzt, fegt und schrubbt solange, bis selbst Meister Propper keine Schliere mehr fände – erst dann setzt sie sich an den Schreibtisch. Manchmal kommen ihre in Süddeutschland lebenden Eltern zu Besuch und wohnen eine Zeitlang bei ihr. „Ich lade sie immer für den Tag nach meinem allerhärtesten Abgabetermin ein“, verriet mir die Kollegin, „dann ist meine Bude noch auf Hochglanz, weil ich sowieso keine Zeit hatte, irgendwelchen Dreck zu machen.“
Man darf also seinen Macken getrost Raum geben. Auch denen, die einen zunächst vom Schreiben abhalten. Klar ist aber: Irgendwann muss es losgehen. So rechtzeitig, dass man sich die Chance wahrt, das Werk fristgerecht zu vollenden. Wer tatenlos auf einen Musenkuss oder den vorbeigaloppierenden Pegasus hofft, wird scheitern. Bewusstseinserweiternde Drogen oder Alkohol sind, zumindest langfristig, ebenso wenig zielführend.
Wer keine Zeile schreibt, schreibt keinen Text. Es ist Schreibdisziplin gefragt.
Mancher empfindet vielleicht Disziplin und Kreativität als Widerspruch. Ich bin anderer Meinung. Will man ein Berufsleben lang, also über mehrere Jahrzehnte, als Autor vom Geschriebenen leben, ist eine gewisse Berechenbarkeit der Einkünfte gefragt. Regelmäßige Produktion und Veröffentlichung ist dafür die Grundvoraussetzung. Selbst jemand, der nur ein einziges Buch verfassen möchte, ganz ohne kommerzielle Ambitionen, kommt nicht ohne Schreibdisziplin zum ersehnten Ziel.
„Darüber müsste ich mal ein Buch schreiben.“ Ja, wenn es so einfach wäre …Vielleicht könnte man vorher noch die Fenster putzen, und die Abstellkammer muss auch dringend aufgeräumt werden ...
STOP! Jetzt fangen Sie endlich an! Achtung, es geht los:
- Verschaffen Sie sich (besonders für den Anfang) ausreichend große Zeitfenster. Die freie halbe Stunde zwischen Großeinkauf und dem Abholen Ihrer Tochter vom Reitunterricht ist kein geeigneter Zeitpunkt, um ein epochales Literaturmeisterwerk zu beginnen. Entweder vergessen Sie Ihre Tochter (gibt Ärger), oder Sie bringen Ihre Worte nicht hinreichend auf den Punkt (gibt Frust). Zwei ungestörte, zusammenhängend dem Schreibwerk gewidmete Stunden sollten es anfangs mindestens sein. Ganze Vor- oder Nachmittage wären besser. Ein kompletter Arbeitstag im Dienste der ersten Seite(n) wäre optimal.
- Wählen Sie für sich den Arbeitsplatz, an dem Sie sich am besten aufs Schreiben fokussieren können. Ich kenne einige mobile Genies, die nur ihr Notebook benötigen, um zu schreiben – egal, ob sie damit im Café, im Zug, auf grüner Wiese oder sonstwo sitzen. Die meisten der mir persönlich bekannten Autoren halten es jedoch wie ich: Sie entscheiden sich für ein Zimmer, in dem sie allein sind und die Tür hinter sich schließen können. Nicht jeder genießt den Luxus eines eigenen Arbeitszimmers. Während meiner Autoren-Anfangsjahre war mir das auch nicht vergönnt. Dass mir während der Arbeit mein damals kleiner Sohn auf seinem Bobby-Car gegen das Schienbein fuhr oder er die Gleise seiner Spielzeugeisenbahn leider genau unter meinem Schreibtischstuhl hindurch verlegen musste, passierte ziemlich oft. Dass ich dann, statt zu schreiben, lieber mit ihm und seiner Eisenbahn spielte, leider auch. Trotzdem sind auch unter diesen Bedingungen Bücher entstanden. Doch als ich später endlich über ein eigenes, separates Schreibzimmer verfügte, war der Unterschied für mich deutlich spürbar.
- Überlegen Sie sich, ob Sie beim Schreiben die Sicht aus dem Fenster beflügelt oder eher ablenkt. Ob Sie Sonne brauchen oder lieber Kunstlicht. Um sich herum aufgeräumten Platz auf dem Schreibtisch bevorzugen oder kreatives Chaos. Finden Sie heraus, was Ihre Konzentrationsfähigkeit unterstützt. Mein Schreibtisch steht grundsätzlich an einer Wand, ich will nichts sehen als den Computer-Monitor. Sonne im Gesicht nervt mich beim Schreiben, da schließe ich gnadenlos die Jalousien. Ich würde lieber in einem Kellerverlies dichten als draußen im Garten. Ich bin ein regelrechter Schreibgrottenolm und kann nötigenfalls stundenlang auf ein und demselben Stuhl verharren. Der Dichter Gerhart Hauptmann (1862-1946) dagegen besaß in seinem Haus auf der schönen Ostseeinsel Hiddensee einen Arbeitsraum im lichtdurchfluteten, ellenlangen Kreuzgang – einzig möbliert mit einem Stehpult. Hauptmann pflegte stundenlang im Gang auf und ab zu patrouillieren, um zwischendurch am Pult sein Schreibwerk voranzutreiben. Oder es stand eine Privatsekretärin am Pult, der Hauptmann im Vorbeieilen ein paar geniale Formulierungen in die Feder diktierte. Über eine Privatsekretärin verfügen nun leider die Wenigsten von uns, was sicher auch daran liegt, dass wir – im Gegensatz zu Gerhart Hauptmann – nie den Literaturnobelpreis gewonnen haben.
Noch nicht.
- Selbst, wenn Sie einen soliden Beruf ausüben, lediglich „nebenbei“ ein Buch (Drehbuch, Theaterstück etc.) schreiben, noch keinen Abnehmer dafür haben und demzufolge auch nicht unter dem Druck eines drohenden Abgabetermins stehen: Wenn Sie es mit Ihrem Projekt ernst meinen, räumen Sie sich bitte auch nach erfolgtem Beginn weiterhin feste Zeiten für die Arbeit daran ein. Der Yogakurs, das Handballtraining, die Chorproben oder andere Hobbies finden schließlich auch zu festen Zeiten statt. Hegen Sie Ambitionen als Profi-Autor, sind die festen Arbeitszeiten ohnehin Pflicht. Sonst wüsste man ja auch gar nicht, wann wieder Prokrastination angesagt ist …
Es gibt beim Schreiben Tage, an dem einem schier gar nichts einfällt und keine Zeile gelingt. Es gibt die Tage, an denen es einfach läuft. Es gibt, zumindest im professionellen Bereich, extreme Turbulenzen wie ein enger Abgabetermin oder kurzfristige Änderungswünsche bezüglich des gerade vollendeten Drehbuchs, was dazu führen kann, dass sich Autorinnen oder Autoren neben Tagen auch noch die Nächte am Schreibtisch um die Ohren schlagen. Das sind, wie gesagt, außergewöhnliche Situationen. Für den gewöhnlichen Schriftstellertag kann ich Ihnen jedoch gewisse Parameter nennen, die ich mit den einschlägigen Erfahrungen einiger Autorenkollegen abgeglichen habe:
An normalen Tagen schreibt man ungefähr vier bis fünf Stunden konzentriert. Altgediente Recken bevorzugen dafür meist den Vormittag (ich auch), bei jüngere Menschen zünden die Ideen oft erst während einer Spätschicht. Spätestens nach fünf Stunden intensiven Schreibens macht die Kreativität schlapp. Manchmal kommt sie wieder in Schwung, wenn man eine kleine Pause macht, sich bewegt, etwas isst und trinkt. Meistens jedoch nicht. Dann liest man vielleicht das bisher Geschriebene noch einmal durch, macht sich Notizen, beantwortet die ein oder andere E-Mail oder googelt irgendeinen Müll – schon ist der Arbeitstag vorbei.
Sie müssen kein schlechtes Gewissen haben, weil Sie es auf diese Weise nicht auf acht konzentrierte Schreibstunden bringen. An fast allen anderen Arbeitsplätzen verbringen die Leute locker den halben Tag mit Themen aus der Gerüchteküche der Firma, Rauchpausen und dem Versenden von Witz-Cartoons. Aber machen Sie bitte nicht den Fehler, Ihren Arbeitstag zuerst mit den Mails und dem Google-Müll zu beginnen! Dann können Sie ihn nämlich meistens gleich vergessen.
Die ersten Tage an einem neuen Schreibprojekt verlaufen oft schleppend. Man schafft pro „Normaltag“ ein bis zwei Seiten, manchmal nur eine halbe. Doch selbst wenn es nur ein Absatz oder auch mal Nullkommanichts sein sollte – dran bleiben! Nachdenken. Weitermachen. Wenn sich allmählich die Sicherheit für die Geschichte einstellt, pegelt sich das Arbeitstempo bei verblüffend vielen Autoren auf die Geschwindigkeit von 1 S/h ein. S/h ist meine persönliche Schreib-Maßeinheit und bedeutet „Seite pro Stunde, 32 Zeilen á 70 Anschläge in der Schrift Times New Roman, Schriftgröße 12“. Der „Normaltag“ bringt dann also vier bis fünf neue Seiten. Nähert sich Ihr Werk dem Ende und laufen darin alle Erzählfäden planmäßig zusammen, können es während der finalen Schreibtage durchaus ein paar Seiten mehr werden.
Sollte es bei Ihnen ganz anders laufen: Hauptsache, Sie schreiben Ihr Ding. Und ziehen es durch.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen

Die Mailadresse lautet
Mehr Infos über das Buch "Goldene Schreibregeln"
E-Book ohne Anmeldung kaufen
Autorenportrait von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Sogar professionelle Schreiber sind vor diesem Albtraum nicht sicher. Er holt sie oft genug in der Realität ein, und dann rettet sie kein Wecker. Man sollte meinen, ein Schreibprofi weiß, was er zu schreiben hat. Falls nicht, könnte er ja den Auftrag ablehnen oder, falls er ihn bereits angenommen hat, kurzerhand absagen.
Das passiert allerdings fast nie, aus gutem Grund. Freischaffende Künstler sind finanziell eher selten auf Rosen gebettet. Selbst wenn, wissen sie nie, wie lange diese Glückssträhne währt. Ich kenne großartige Autoren, die seit Jahrzehnten sehr gut im Geschäft sind und trotzdem in tiefer Angst davor leben, übermorgen wieder dort zu sein, wo sie mal zu Beginn ihrer Karriere waren: chronisch pleite und ohne Aufträge.
Egal, ob etablierter Profi oder ambitioniertes Nachwuchstalent, kaum ein Autor lehnt einen angemessen honorierten Auftrag ab. Die Frage, ob einem das Projekt wirklich gefällt und ob man ihm gewachsen ist, stellt man sich lieber nicht oder beantwortet sie nicht ehrlich. Ebenso verdrängt man allzu gern bei der Vertragsunterschrift, dass es vielleicht noch weitere Projekte gibt, deren Abgabetermine sich überschneiden. Monatelang wollte keiner was von einem, plötzlich kommen mehrere Angebote aus verschiedenen Ecken. So ist es meistens. Und man sagt zu, weil man ahnt, dass danach wieder monatelang nichts läuft.
Schon ist der Albtraum programmiert.
Bald, sehr bald nach gegebener Zusage wird einem bewusst, dass man einem knüppelharten Arbeitsmarathon entgegensieht, an dessen Ende man möglicherweise trotz aller Mühen nicht durchs Ziel kommt. Vielleicht, hoffentlich, hat man ein paar Vorstellungen davon, wie man die erforderlichen Texte gestalten möchte. Aber man weiß, es wird heftig. Die Anstrengung wird einen fertigmachen und es wird weh tun.
Ich kenne mich selbst und außerdem eine Menge geschätzter Autorenkolleginnen und -kollegen. Deshalb kann ich Ihnen verraten, was die meisten Schreibprofis in dieser Situation tun:
Alles Mögliche. Vielleicht schreiben sie sogar. Allerdings eher nicht am drängendsten Problemprojekt.
Autoren sind von Berufs wegen fantasiebegabt. Und selten kreativer als in einer Situation, in der es gilt, eine Beschäftigung zu finden, die so dringend und unaufschiebbar ist, dass man unmöglich stattdessen am Problemprojekt schreiben könnte. „Prokrastination“ lautet das Fachwort für diesen Zustand. Für die Nicht-Lateiner unter uns: „procastrinare“ bedeutet vertagen, zusammengesetzt aus pro = für und cras = morgen. Gemeint ist das extreme Aufschieben eigentlicher Notwendigkeiten, und das gilt in verschärfter Ausprägung durchaus als pathologisches Krankheitsbild.
Bis zum zwangsweisen Klappsmühlenaufenthalt lassen es Autoren in der Regel nicht kommen, aber manchmal fehlt nicht viel. Das Gute dabei ist: Wer als Autor auf langjährige Selbsterfahrung mit der „Aufschieberitis“ zurückblickt, kennt seine persönlichen Macken und setzt sie im Idealfall sogar strategisch klug ein. Beispielsweise beginnt eine Drehbuchautorin aus meinem Freundeskreis unweigerlich ihren kompletten Haushalt inklusive Gemeinschaftstreppenhaus zu putzen, wenn sie eigentlich am Problemprojekt sitzen müsste. Sie putzt, fegt und schrubbt solange, bis selbst Meister Propper keine Schliere mehr fände – erst dann setzt sie sich an den Schreibtisch. Manchmal kommen ihre in Süddeutschland lebenden Eltern zu Besuch und wohnen eine Zeitlang bei ihr. „Ich lade sie immer für den Tag nach meinem allerhärtesten Abgabetermin ein“, verriet mir die Kollegin, „dann ist meine Bude noch auf Hochglanz, weil ich sowieso keine Zeit hatte, irgendwelchen Dreck zu machen.“
Man darf also seinen Macken getrost Raum geben. Auch denen, die einen zunächst vom Schreiben abhalten. Klar ist aber: Irgendwann muss es losgehen. So rechtzeitig, dass man sich die Chance wahrt, das Werk fristgerecht zu vollenden. Wer tatenlos auf einen Musenkuss oder den vorbeigaloppierenden Pegasus hofft, wird scheitern. Bewusstseinserweiternde Drogen oder Alkohol sind, zumindest langfristig, ebenso wenig zielführend.
Wer keine Zeile schreibt, schreibt keinen Text. Es ist Schreibdisziplin gefragt.
Mancher empfindet vielleicht Disziplin und Kreativität als Widerspruch. Ich bin anderer Meinung. Will man ein Berufsleben lang, also über mehrere Jahrzehnte, als Autor vom Geschriebenen leben, ist eine gewisse Berechenbarkeit der Einkünfte gefragt. Regelmäßige Produktion und Veröffentlichung ist dafür die Grundvoraussetzung. Selbst jemand, der nur ein einziges Buch verfassen möchte, ganz ohne kommerzielle Ambitionen, kommt nicht ohne Schreibdisziplin zum ersehnten Ziel.
„Darüber müsste ich mal ein Buch schreiben.“ Ja, wenn es so einfach wäre …Vielleicht könnte man vorher noch die Fenster putzen, und die Abstellkammer muss auch dringend aufgeräumt werden ...
STOP! Jetzt fangen Sie endlich an! Achtung, es geht los:
- Verschaffen Sie sich (besonders für den Anfang) ausreichend große Zeitfenster. Die freie halbe Stunde zwischen Großeinkauf und dem Abholen Ihrer Tochter vom Reitunterricht ist kein geeigneter Zeitpunkt, um ein epochales Literaturmeisterwerk zu beginnen. Entweder vergessen Sie Ihre Tochter (gibt Ärger), oder Sie bringen Ihre Worte nicht hinreichend auf den Punkt (gibt Frust). Zwei ungestörte, zusammenhängend dem Schreibwerk gewidmete Stunden sollten es anfangs mindestens sein. Ganze Vor- oder Nachmittage wären besser. Ein kompletter Arbeitstag im Dienste der ersten Seite(n) wäre optimal.
- Wählen Sie für sich den Arbeitsplatz, an dem Sie sich am besten aufs Schreiben fokussieren können. Ich kenne einige mobile Genies, die nur ihr Notebook benötigen, um zu schreiben – egal, ob sie damit im Café, im Zug, auf grüner Wiese oder sonstwo sitzen. Die meisten der mir persönlich bekannten Autoren halten es jedoch wie ich: Sie entscheiden sich für ein Zimmer, in dem sie allein sind und die Tür hinter sich schließen können. Nicht jeder genießt den Luxus eines eigenen Arbeitszimmers. Während meiner Autoren-Anfangsjahre war mir das auch nicht vergönnt. Dass mir während der Arbeit mein damals kleiner Sohn auf seinem Bobby-Car gegen das Schienbein fuhr oder er die Gleise seiner Spielzeugeisenbahn leider genau unter meinem Schreibtischstuhl hindurch verlegen musste, passierte ziemlich oft. Dass ich dann, statt zu schreiben, lieber mit ihm und seiner Eisenbahn spielte, leider auch. Trotzdem sind auch unter diesen Bedingungen Bücher entstanden. Doch als ich später endlich über ein eigenes, separates Schreibzimmer verfügte, war der Unterschied für mich deutlich spürbar.
- Überlegen Sie sich, ob Sie beim Schreiben die Sicht aus dem Fenster beflügelt oder eher ablenkt. Ob Sie Sonne brauchen oder lieber Kunstlicht. Um sich herum aufgeräumten Platz auf dem Schreibtisch bevorzugen oder kreatives Chaos. Finden Sie heraus, was Ihre Konzentrationsfähigkeit unterstützt. Mein Schreibtisch steht grundsätzlich an einer Wand, ich will nichts sehen als den Computer-Monitor. Sonne im Gesicht nervt mich beim Schreiben, da schließe ich gnadenlos die Jalousien. Ich würde lieber in einem Kellerverlies dichten als draußen im Garten. Ich bin ein regelrechter Schreibgrottenolm und kann nötigenfalls stundenlang auf ein und demselben Stuhl verharren. Der Dichter Gerhart Hauptmann (1862-1946) dagegen besaß in seinem Haus auf der schönen Ostseeinsel Hiddensee einen Arbeitsraum im lichtdurchfluteten, ellenlangen Kreuzgang – einzig möbliert mit einem Stehpult. Hauptmann pflegte stundenlang im Gang auf und ab zu patrouillieren, um zwischendurch am Pult sein Schreibwerk voranzutreiben. Oder es stand eine Privatsekretärin am Pult, der Hauptmann im Vorbeieilen ein paar geniale Formulierungen in die Feder diktierte. Über eine Privatsekretärin verfügen nun leider die Wenigsten von uns, was sicher auch daran liegt, dass wir – im Gegensatz zu Gerhart Hauptmann – nie den Literaturnobelpreis gewonnen haben.
Noch nicht.
- Selbst, wenn Sie einen soliden Beruf ausüben, lediglich „nebenbei“ ein Buch (Drehbuch, Theaterstück etc.) schreiben, noch keinen Abnehmer dafür haben und demzufolge auch nicht unter dem Druck eines drohenden Abgabetermins stehen: Wenn Sie es mit Ihrem Projekt ernst meinen, räumen Sie sich bitte auch nach erfolgtem Beginn weiterhin feste Zeiten für die Arbeit daran ein. Der Yogakurs, das Handballtraining, die Chorproben oder andere Hobbies finden schließlich auch zu festen Zeiten statt. Hegen Sie Ambitionen als Profi-Autor, sind die festen Arbeitszeiten ohnehin Pflicht. Sonst wüsste man ja auch gar nicht, wann wieder Prokrastination angesagt ist …
Es gibt beim Schreiben Tage, an dem einem schier gar nichts einfällt und keine Zeile gelingt. Es gibt die Tage, an denen es einfach läuft. Es gibt, zumindest im professionellen Bereich, extreme Turbulenzen wie ein enger Abgabetermin oder kurzfristige Änderungswünsche bezüglich des gerade vollendeten Drehbuchs, was dazu führen kann, dass sich Autorinnen oder Autoren neben Tagen auch noch die Nächte am Schreibtisch um die Ohren schlagen. Das sind, wie gesagt, außergewöhnliche Situationen. Für den gewöhnlichen Schriftstellertag kann ich Ihnen jedoch gewisse Parameter nennen, die ich mit den einschlägigen Erfahrungen einiger Autorenkollegen abgeglichen habe:
An normalen Tagen schreibt man ungefähr vier bis fünf Stunden konzentriert. Altgediente Recken bevorzugen dafür meist den Vormittag (ich auch), bei jüngere Menschen zünden die Ideen oft erst während einer Spätschicht. Spätestens nach fünf Stunden intensiven Schreibens macht die Kreativität schlapp. Manchmal kommt sie wieder in Schwung, wenn man eine kleine Pause macht, sich bewegt, etwas isst und trinkt. Meistens jedoch nicht. Dann liest man vielleicht das bisher Geschriebene noch einmal durch, macht sich Notizen, beantwortet die ein oder andere E-Mail oder googelt irgendeinen Müll – schon ist der Arbeitstag vorbei.
Sie müssen kein schlechtes Gewissen haben, weil Sie es auf diese Weise nicht auf acht konzentrierte Schreibstunden bringen. An fast allen anderen Arbeitsplätzen verbringen die Leute locker den halben Tag mit Themen aus der Gerüchteküche der Firma, Rauchpausen und dem Versenden von Witz-Cartoons. Aber machen Sie bitte nicht den Fehler, Ihren Arbeitstag zuerst mit den Mails und dem Google-Müll zu beginnen! Dann können Sie ihn nämlich meistens gleich vergessen.
Die ersten Tage an einem neuen Schreibprojekt verlaufen oft schleppend. Man schafft pro „Normaltag“ ein bis zwei Seiten, manchmal nur eine halbe. Doch selbst wenn es nur ein Absatz oder auch mal Nullkommanichts sein sollte – dran bleiben! Nachdenken. Weitermachen. Wenn sich allmählich die Sicherheit für die Geschichte einstellt, pegelt sich das Arbeitstempo bei verblüffend vielen Autoren auf die Geschwindigkeit von 1 S/h ein. S/h ist meine persönliche Schreib-Maßeinheit und bedeutet „Seite pro Stunde, 32 Zeilen á 70 Anschläge in der Schrift Times New Roman, Schriftgröße 12“. Der „Normaltag“ bringt dann also vier bis fünf neue Seiten. Nähert sich Ihr Werk dem Ende und laufen darin alle Erzählfäden planmäßig zusammen, können es während der finalen Schreibtage durchaus ein paar Seiten mehr werden.
Sollte es bei Ihnen ganz anders laufen: Hauptsache, Sie schreiben Ihr Ding. Und ziehen es durch.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen

Wenn Sie das Buch bestellen möchten, schicken wir Ihnen das Buch versandkostenfrei zu.
Mailen
Sie uns einfach Ihre Bestellung zusammen mit Ihrer Anschrift und Ihrer
Kontoverbindung (IBAN) zu, wir buchen den Rechnungsbetrag von Ihrem
Konto ab. Alternativ bekommen Sie von uns eine Rechnung, damit Sie uns
den Betrag überweisen können.
E-Book ohne Anmeldung kaufen
Autorenportrait von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
weiterlesen
weniger