Schreibregel der Woche

© Autorenfoto: Hocky Neubert
Schreiben und Lesen sind lautlose Tätigkeiten. In der innigen Beziehung zwischen Autor und Leser muss eigentlich keiner von beiden seinen Mund aufmachen. Dennoch formt auch geschriebene Sprache Laute und Rhythmen. Die schwingen beim Schreiben in der inneren Wahrnehmung des Autors mit und begleiten als unterbewusste Tonspur den Leser bei der Lektüre...
Der Rhythmus eines geschriebenen Textes offenbart sich spätestens beim Vorlesen. Ohne Rhythmus ist ein Text ohne Pulsschlag – also tot.
von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Schreiben und Lesen sind lautlose Tätigkeiten. In der innigen Beziehung zwischen Autor und Leser muss eigentlich keiner von beiden seinen Mund aufmachen. Dennoch formt auch geschriebene Sprache Laute und Rhythmen. Die schwingen beim Schreiben in der inneren Wahrnehmung des Autors mit und begleiten als unterbewusste Tonspur den Leser bei der Lektüre...
Wenn man Musik abspielt, entscheidet man sich gewöhnlich für einen bestimmten Stil, je nach aktueller Stimmung und persönlichem Geschmack. Ein Musikstück, das im Reggae-Rhythmus beginnt, dann zur Opernarie mutiert, nahtlos Punk in Punk übergeht und mit einem Panflöten-Finale endet, würde vermutlich die meisten Hörer ziemlich verstören.
Auch die meisten Autoren pflegen ihren persönlichen Schreibstil und damit einen in ihrem Werk vorherrschenden Sprachklang und –rhythmus. Man kann mit ständigen Wiederholungen langweilen oder auf Abwechslung achten. Man kann mit Fremdworten arbeiten oder auf allgemeine Verständlichkeit unter bewusster Vermeidung von Anglizismen setzen. Man kann komplexe Inhalte auf knapp formulierte, kurze Sätze verteilen oder alles in einem ewig langen „Bandwurmsatz“ verschachteln.
In Thomas Manns Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ (erschienen zwischen 1933-43) habe ich einen Satz von 338 Worten gefunden – falls ich mich nicht verzählt habe, was bei derartiger Länge schon mal vorkommen kann. Der längste Satz der französischen Literatur stammt von Marcel Proust, er steht in seinem Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (siebenteiliger Roman, erschienen zwischen 1913-27) und enthält stolze 823 Wörter. Der irische Autor James Joyce treibt es im „Ulysses“ (erschienen 1922) in einem einzigen Satz sogar auf unfassbare 12.931 Wörter. „Unfassbar“ meine ich wörtlich, denn ich bezweifle, dass irgendein Leser dieses Satzes imstande ist, dessen Sinn beim ersten Durchlesen zu erfassen. Selbst beim zweiten und dritten Anlauf (und möglicherweise bei jedem weiteren) dürften die meisten von uns bei so einer Wahnsinnskonstruktion weit vor dem Zieleinlauf aus der Kurve fliegen. Aber da Joyce das so geschrieben hat, legte er vielleicht nicht besonders viel Wert darauf, von möglichst jedem Leser verstanden zu werden.
Das ist, wie beim Musizieren und Musikhören, auch Geschmacksache.
Deshalb ist es für alle Autoren – auch und gerade für die angehenden! – sinnvoll, sich schon vor dem Niederschreiben des ersten Romansatzes zu überlegen, wohin die literarische Reise gehen soll. Welche Glocken man schlagen, welche Sprache man pflegen möchte. Von William Faulkner (Literaturnobelpreisträger 1949) ist eine Schreibregel überliefert, die ich jedem ambitionierten Verfasser einer geschriebenen Geschichte ans Herz legen möchte: „Schreibe den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt den zweiten lesen will.“
Man kann schon im ersten Satz überraschen:
„Es war ein strahlend-kalter Apriltag, und die Uhren schlugen dreizehn.“ (George Orwell, „1984“).
Man kann Spannung aufbauen:
„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (Franz Kafka, „Der Prozess“).
Man kann mit speziellem Humor punkten und damit gleich seine Hauptfigur charakterlich etablieren:
„Die Stimme am Telefon klang deutlich und entschieden, aber ich verstand nicht recht, was sie eigentlich sagte – teils, weil ich noch halb schlief, und teils, weil ich das falsche Ende des Hörers am Ohr hatte.“ (Raymond Chandler, „Playback“).
Oder man schwingt den ganz großen Pathos-Hammer, um sofort klarzumachen, dass es hier um Grundsätzliches geht:
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ (Bibel, Genesis 1,1).
Jetzt kommt es nur noch darauf an, dem eingeschlagenen Rhythmus ein Werk lang treu zu bleiben …
Selbstverständlich dürfen innerhalb dieses Werkes unterschiedliche Romanfiguren auch unterschiedlich sprechen, solange sie in ihrer Rede konsequent geführt werden. Falls ein und dieselbe Romanfigur grundlos mal wie ein Linguistik-Professor und dann wieder wie ein Einöd-Hirte ohne Schulabschluss spricht, provoziert das rasch das denselben Effekt wie das eingangs beschriebene, verstörende Musikstück. Nämlich jenes, das im Reggae-Rhythmus beginnt, dann zur Opernarie mutiert, nahtlos Punk in Punk übergeht und mit einem Panflöten-Finale endet.
Falls Sie sich nicht sicher sind, ob das eigene Geschriebene überhaupt verständlich und nicht allzu umständlich klingt, hilft es, den Text selbst laut vorzulesen. Es muss ja nicht gleich vor Publikum sein. Jedes Smartphone verfügt heutzutage über eine Diktiergerät-Funktion. Sprechen Sie einen Absatz Ihres Textes, eine Seite oder einige mehr ins Gerät. Dann legen Sie sich entspannt aufs Sofa, schließen die Augen und hören sich das Ganze an, gern mehrmals. Vielleicht fällt Ihnen dabei auf, wo es noch schleift und rumpelt. Bemerken Sie jedoch keine Ungereimtheiten mehr, riskieren Sie getrost einen Vorleseversuch mit Publikum.
Sie sind auf einem guten Weg.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen

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Autorenportrait von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Auch die meisten Autoren pflegen ihren persönlichen Schreibstil und damit einen in ihrem Werk vorherrschenden Sprachklang und –rhythmus. Man kann mit ständigen Wiederholungen langweilen oder auf Abwechslung achten. Man kann mit Fremdworten arbeiten oder auf allgemeine Verständlichkeit unter bewusster Vermeidung von Anglizismen setzen. Man kann komplexe Inhalte auf knapp formulierte, kurze Sätze verteilen oder alles in einem ewig langen „Bandwurmsatz“ verschachteln.
In Thomas Manns Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ (erschienen zwischen 1933-43) habe ich einen Satz von 338 Worten gefunden – falls ich mich nicht verzählt habe, was bei derartiger Länge schon mal vorkommen kann. Der längste Satz der französischen Literatur stammt von Marcel Proust, er steht in seinem Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (siebenteiliger Roman, erschienen zwischen 1913-27) und enthält stolze 823 Wörter. Der irische Autor James Joyce treibt es im „Ulysses“ (erschienen 1922) in einem einzigen Satz sogar auf unfassbare 12.931 Wörter. „Unfassbar“ meine ich wörtlich, denn ich bezweifle, dass irgendein Leser dieses Satzes imstande ist, dessen Sinn beim ersten Durchlesen zu erfassen. Selbst beim zweiten und dritten Anlauf (und möglicherweise bei jedem weiteren) dürften die meisten von uns bei so einer Wahnsinnskonstruktion weit vor dem Zieleinlauf aus der Kurve fliegen. Aber da Joyce das so geschrieben hat, legte er vielleicht nicht besonders viel Wert darauf, von möglichst jedem Leser verstanden zu werden.
Das ist, wie beim Musizieren und Musikhören, auch Geschmacksache.
Deshalb ist es für alle Autoren – auch und gerade für die angehenden! – sinnvoll, sich schon vor dem Niederschreiben des ersten Romansatzes zu überlegen, wohin die literarische Reise gehen soll. Welche Glocken man schlagen, welche Sprache man pflegen möchte. Von William Faulkner (Literaturnobelpreisträger 1949) ist eine Schreibregel überliefert, die ich jedem ambitionierten Verfasser einer geschriebenen Geschichte ans Herz legen möchte: „Schreibe den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt den zweiten lesen will.“
Man kann schon im ersten Satz überraschen:
„Es war ein strahlend-kalter Apriltag, und die Uhren schlugen dreizehn.“ (George Orwell, „1984“).
Man kann Spannung aufbauen:
„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (Franz Kafka, „Der Prozess“).
Man kann mit speziellem Humor punkten und damit gleich seine Hauptfigur charakterlich etablieren:
„Die Stimme am Telefon klang deutlich und entschieden, aber ich verstand nicht recht, was sie eigentlich sagte – teils, weil ich noch halb schlief, und teils, weil ich das falsche Ende des Hörers am Ohr hatte.“ (Raymond Chandler, „Playback“).
Oder man schwingt den ganz großen Pathos-Hammer, um sofort klarzumachen, dass es hier um Grundsätzliches geht:
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ (Bibel, Genesis 1,1).
Jetzt kommt es nur noch darauf an, dem eingeschlagenen Rhythmus ein Werk lang treu zu bleiben …
Selbstverständlich dürfen innerhalb dieses Werkes unterschiedliche Romanfiguren auch unterschiedlich sprechen, solange sie in ihrer Rede konsequent geführt werden. Falls ein und dieselbe Romanfigur grundlos mal wie ein Linguistik-Professor und dann wieder wie ein Einöd-Hirte ohne Schulabschluss spricht, provoziert das rasch das denselben Effekt wie das eingangs beschriebene, verstörende Musikstück. Nämlich jenes, das im Reggae-Rhythmus beginnt, dann zur Opernarie mutiert, nahtlos Punk in Punk übergeht und mit einem Panflöten-Finale endet.
Falls Sie sich nicht sicher sind, ob das eigene Geschriebene überhaupt verständlich und nicht allzu umständlich klingt, hilft es, den Text selbst laut vorzulesen. Es muss ja nicht gleich vor Publikum sein. Jedes Smartphone verfügt heutzutage über eine Diktiergerät-Funktion. Sprechen Sie einen Absatz Ihres Textes, eine Seite oder einige mehr ins Gerät. Dann legen Sie sich entspannt aufs Sofa, schließen die Augen und hören sich das Ganze an, gern mehrmals. Vielleicht fällt Ihnen dabei auf, wo es noch schleift und rumpelt. Bemerken Sie jedoch keine Ungereimtheiten mehr, riskieren Sie getrost einen Vorleseversuch mit Publikum.
Sie sind auf einem guten Weg.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen

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