Schreibregel der Woche
![FOTO JAN SCHRÖTER](https://www.tatort-schreibtisch.de/images/schroeter-320.jpg)
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Sie wollten bloß etwas schreiben. Sie haben sich tatsächlich getraut, das Geschriebene zu veröffentlichen, auf ihrer Webseite oder in ihrem Blog oder als Selfpublisher im Internet. Oder Sie finden sogar einen Buchverlag, eine Filmproduktionsfirma oder eine Zeitungsredaktion, die Ihr Werk herausbringt.
Manchmal beginnt damit ein großes, unerwartetes Problem...
Es gab in meinem Autorenleben eine Phase, während der ich Horoskope für eine wöchentlich erscheinende TV-Programmzeitschrift schrieb. Frei erfunden, gegen Honorar. Harmlose, unspezifische Prognosen. Zwei, drei Sätze pro Sternzeichen, etwa so:
SCHÜTZE: Es gibt dermaßen viel zu tun, dass sich die Frage erhebt, ob man nicht besser erst einmal gar nichts tut – das weitere Vorgehen will gut überlegt sein. Und ein guter Plan bringt langfristig sicher mehr als bloßer Aktionismus.
KREBS: So abgeklärt, wie Sie glauben, sind Sie gar nicht. Sonst würde ein bestimmtes Erlebnis in dieser Woche nicht so einen großen Einfluss auf Ihre Stimmung ausüben können. Getrost mal den Gefühlen nachgeben – das ist keine Schwäche.
Das liest sich ziemlich beliebig. So war es von mir beabsichtigt und von meinen Auftraggebern gewollt. Ich glaube nicht an Horoskope. Erst recht nicht, wenn ich genau weiß, dass der Verfasser – also zum Beispiel ich selbst – sich die Dinger bloß ausgedacht und dafür nicht mal eine Glaskugel befragt hat. Also vermied ich es beim Verfassen meiner Horoskop-Beiträge grundsätzlich, konkrete Katastrophen („Ab Dienstag ist mit plötzlich auftretenden Herzrhythmusstörungen zu rechnen“) oder explizit benannte Glücksfälle („In der Wochenendziehung knacken Sie den Jackpot mit Superzahl, kündigen Sie bitte vorsorglich Ihrem Arbeitgeber“) zu prophezeien. Das, kalkulierte ich, müsste genügen, um zu verhindern, dass irgendwer meine Horoskope ernst nimmt. Schließlich lag es nicht in meiner Absicht, andere Leute zu erschrecken oder ihnen leere Versprechungen zu machen.
Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen rief mich eines Tages ein Mann an, der sich zuvor unter nicht unerheblichem Aufwand meine Telefonnummer besorgt hatte, und zwar in der Redaktion der Illustrierten, für die ich besagte Horoskope schrieb. Er hatte als Leser über Monate hinweg meine Prognosen für sein Sternzeichen verfolgt und war der unbedingten Meinung, alles träfe hundertprozentig auf sein eigenes Dasein zu. Nun wollte er von mir eine private Vorhersage seiner Zukunft und bot eine ansehnliche Summe Geld dafür.
Dass ich offenbar mit meinen vermeintlich harmlosen Horoskopen einen anderen Menschen derartig manipuliert hatte, jagte mir großen Schrecken ein. Ich hatte es nicht absichtlich getan, aber es war trotzdem passiert. Mein Ball aus flauschigen Floskeln war vom Hügel gerollt und unten als Lawine steingemeißelter Dogmen einem Menschen, den ich nicht einmal kannte, um den Verstand geflogen. Für mich war das zu viel Verantwortung. Noch während des Telefongesprächs konnte ich mich aus der peinlichen Situation herausreden, ohne Illusionen zu zerstören. Und bald nach diesem Ereignis fand meine Karriere als Astrologie-Guru ohnehin ein Ende, nachdem meine Auftraggeber eine andere Quelle aufgetan hatten, aus der sie ihre wöchentlichen Horoskope beziehen konnten. Die waren selbstverständlich nicht so schön wie meine, aber honorarfrei.
Obwohl glimpflich verlaufen, überkommt mich seit dem Erlebnis mit dem Horoskop-Jünger immer mal wieder die Furcht davor, jemand könnte sich durch etwas von mir Geschriebenes zu einer Dummheit oder zu Schlimmerem verleiten lassen. Tatsächlich passiert es manchmal, dass ich gerade etwas schreibe (oder geschrieben habe) – und kurz darauf lese ich in der Zeitung oder sehe in den Fernsehnachrichten, dass genau so etwas soeben in der Realität passiert ist. Nur ein Beispiel: Für eine Folge der TV-Krimireihe „Großstadtrevier“ etablierte ich im Drehbuch die Rolle eines Jugendlichen, der Stromkästen kurzschließt, auf diese Weise Ampelanlagen abschaltet und den Straßenverkehr lahmlegt. Kaum war das Drehbuch fertig, kam es in meiner Heimatstadt Hamburg zu einer Serie gleichartiger Vorfälle, Täter: ein Jugendlicher. Zu meiner Entlastung lässt sich anführen, dass mein Drehbuch zu diesem Zeitpunkt zwar geschrieben, aber noch nicht verfilmt war – das geschah erst Monate später. Zum Glück. Sonst hätte ich mich ernsthaft gefragt, ob ich durch meine Geschichte vielleicht einen jungen Kerl auf dumme Ideen gebracht hätte.
Solche Zufälligkeiten erlebt man als Schreibender öfter, wie mir auch mehrfach Kolleginnen und Kollegen bestätigten. Ein befreundeter Autor ist davon überzeugt, dass schreibende Menschen sensibler sind für die Entwicklungen in einer Gesellschaft und daher als Erste auf Ideen kommen, die ans Tageslicht wollen und die sich bald auch allen anderen aufdrängen werden. Daher das Phänomen, dass sich ausgedachte Geschichten in der Wirklichkeit wiederholen. Ich erkläre mir dieses Phänomen so: Man ist als Autor dermaßen von seinem jeweils aktuellen Werk besessen, dass man sofort aufmerkt, wenn einem dazu tatsächliche oder vermeintliche Verbindungen zur Wirklichkeit auffallen.
Aber eine solche Besessenheit vom Erzählstoff stellt sich ja auch beim Buchleser, Filmbetrachter, Radiohörer ein.
Schauen Sie einmal in die Schreibregel Nr. 5. Dort behaupte ich: „Kaum verlässt der Autor den Boden der Tatsachen, beginnt auch des Lesers Fantasie zu arbeiten“. Das ist so. Und das ist eigentlich schön, denn es bedeutet: Kein Leser verhält sich ausschließlich passiv. Er nimmt die Gedankenvorlage der Lektüre auf, baut sie aus, schlägt im Sinn seine eigene Richtung ein. Das bedeutet im Umkehrschluss leider auch: Autoren können unter Umständen durch ihr Werk etwas in Gang setzen, was sie in dieser Konsequenz nie beabsichtigten.
Klassisches Beispiel: Johann Wolfgang von Goethe und sein Roman „Die Leiden des jungen Werther“, erschienen 1774 und eines der erfolgreichsten Bücher der Literaturgeschichte (man spricht sogar vom ersten „Bestseller“ der deutschen Literatur). Es handelt sich inhaltlich um eine tragisch verlaufende Dreiecks-Liebesgeschichte: Der junge Werther verliebt sich in Lotte, die jedoch mit Albert verlobt ist, der sich seinerseits mit Werther anfreundet. Diesem Beziehungsdilemma hält Werther nicht stand, am Ende wählt er für sich den Suizid.
Goethe schrieb diese Geschichte aus persönlichen Motiven: Ein guter Freund von ihm hatte sich wegen der unglücklichen Liebe zu einer verheirateten Frau umgebracht – und der Dichter selbst wollte mit dem „Werther“ auch seine eigene, physisch unerfüllt gebliebene Zuneigung zur bereits anderweitig verlobten Freundin Maximiliane von La Roche verarbeiten. Dafür wählte Goethe die Form eines „Briefromans“. Seine Hauptfigur Werther schreibt Briefe, aus denen der Roman hauptsächlich besteht, und das ist ein ganz besonders abgefeimter Autorentrick. Als Leser öffnet man sozusagen heimlich die Briefe eines zunächst Fremden. Man gewinnt intime Einblicke in die Persönlichkeit des Briefeschreibers. Der existiert zwar nur auf dem Papier, aber dieser Eindruck verwischt sich zunehmend. Irgendwann wird diese fiktive Person zum Vertrauten. Oder zum Leidensgenossen – als solchen empfanden offenbar eine Menge Leser den jungen Werther.
Zunächst kopierten die Fans den modischen Style des Romanhelden. Man trug „Werther-Tracht“: blauer Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste, Lederhose, Stulpenstiefel, auf dem Haupt einen runden Filzhut. Das war harmlos, und Goethe wird es amüsiert haben. Dann jedoch begingen einzelne unglücklich Verliebte Selbstmord und beriefen sich dabei in ihren letzten Botschaften auf den Werther-Roman. Schnell sprach man von einer regelrechten Selbstmordwelle, ausgelöst durch dieses Buch – und das wird Goethe getroffen haben. Als sich im Januar 1778 dann sogar eine junge Frau (Christiane von Laßberg), die Goethe persönlich kannte, in Weimar absichtlich von einer Brücke in die eiskalte Ilm stürzte und man nach dem Auffinden ihrer Leiche entdeckte, dass sie ein Exemplar des „Werther“ bei sich trug, zeigte sich der Dichter schwer erschüttert. Denn das hatte er sicher nicht gewollt, als er den Roman schrieb. Die Schuld an den Werther-motivierten Freitoden sah er trotzdem nicht bei sich. Diesen Standpunkt verfocht er Anklägern gegenüber sogar ziemlich heftig, ohne feingeistige Pietät:
„Und nun wollt Ihr einen Schriftsteller zur Rechenschaft ziehen und ein Werk verdammen, das, durch einige beschränkte Geister falsch aufgefasst, die Welt höchstens von einem Dutzend Dummköpfen und Taugenichtsen befreit hat, die gar nichts besseres tun konnten, als den schwachen Rest ihres bisschen Lichtes vollends auszublasen.“
Der Schriftsteller macht seine Arbeit, meint Goethe damit. Er schreibt seine Geschichte, und wenn die jemand schräg interpretiert – selber schuld. Ich behaupte mal, das hat der Meister aus Weimar in seinem Innersten selbst nicht geglaubt. Wer etwas aufschreibt und veröffentlicht, überlegt sich das sehr genau. Er möchte der Öffentlichkeit etwas mitteilen und hofft, dass diese sich damit gebührend beschäftigt. Er entwickelt fiktive Charaktere. Und je besser ihm das gelingt, umso intensiver sind die Gefühle, mit denen sich das Publikum an die handelnden Figuren und ihre Geschichte bindet und letztlich damit identifiziert. Mit allen Konsequenzen, unter Umständen sogar bis zum Suizid, siehe Werther.
Wäre es jetzt besser gewesen, wenn Goethe seinen Roman niemals geschrieben hätte? Diese Frage verweisen wir an das Philosophie-Seminar und wenden uns einer anderen zu: Was bedeutet das für Sie als Autor?
Erst einmal: Sie sollten keineswegs darauf verzichten, eine Geschichte zu erzählen, Ihre Geschichte, für die Sie brennen. Nur sollten Sie sich dessen bewusst sein, dass sich unter Umständen eine unkontrollierbare Dynamik einstellt, sobald Sie Ihr Werk veröffentlichen. Veröffentlichen bedeutet: aus der Hand geben. In die Freiheit entlassen. Zur Fremd- und Fehlinterpretation freigeben. Möchten Sie das nicht riskieren, verwahren Sie Ihr Geschriebenes besser gut gesichert im Tresor.
Die Geschichte steckt andererseits auch voller Beispiele, die beweisen, dass Autoren in voller Absicht die Gefühle ihres Publikums manipulieren wollen. Man denke an die „Blut-und-Boden“-Dichter im Dritten Reich oder überhaupt an die unfassbar vielen Bücher, Filme, Hörspiele und Pressebeiträge, die nur einem einzigen Zweck dienen: der Propaganda für ein Regime, eine Idee oder eine Gesinnung. In diesen Fällen schreiben die Verfasser aus ideologischer Motivation, und die Lawine, die sie dadurch eventuell auslösen, liegt in ihrer vollen Absicht.
Gar nicht selten jedoch passiert es, dass jemand – ebenfalls in voller Absicht – lustvoll auf die Tonne haut, um mit der provozierten Aufmerksamkeitslawine ganz egoistisch die eigene Karriere anzuschieben.
Auch dazu gibt es eine exemplarische Anekdote.
USA, Ostküste, 30. Oktober 1938, abends. Die Menschen sitzen vor ihren Radiogeräten und lauschen einer Konzertübertragung. Plötzlich verstummt die Musik zugunsten einer „Breaking News“: Man registriere ungewöhnliche Aktivitäten auf dem Mars, rätselhafte Objekte bewegten sich von dort aus rasend schnell in Richtung Erde. Ein Reporter wird zugeschaltet, der sich gerade in einer Sternwarte befindet und dort Wissenschaftler zu den Ereignissen befragt – auch diese Experten sind ratlos. Der Radiosender spielt weiter Musik. Dann wird das Programm für die nächste Horrormeldung unterbrochen: Ein zunehmend panischer Reporter berichtet live von der Landung eines Raumschiffs bei einem Ort namens Grover‘s Mill in New Jersey. Ein Außerirdischer entsteigt, der Reporter beschreibt ihn als eine Art „Bär mit einer Haut wie nasses Leder“. Dieses Monster schießt plötzlich mit einem Feuerstrahl um sich, man hört nur noch grauenhafte Schreie – dann bricht die Reportage unvermittelt ab.
Leicht nachzuvollziehen, dass an dieser Stelle etlichen Radiohörern schlagartig der Feierabend versaut war. Tausende zeigten sich zutiefst besorgt und riefen beim Rundfunksender oder gleich bei der Polizei an. Und nicht wenige Menschen gerieten über die Invasion aus dem All total in Panik, flohen mit Notköfferchen in ihre Autos und bretterten gen Westen.
Erst am übernächsten Tag klärten sich auf einer Pressekonferenz des Senders die Hintergründe.
Die verstörende Reportage sei Teil eines Hörspiels gewesen, basierend auf der damals bereits 40 Jahre alten Geschichte „Der Krieg der Welten“ von H. G. Wells. Diese Geschichte, ursprünglich ein Roman, spielte eigentlich gar nicht in den USA, sondern im viktorianischen England. Der damals erst 23jährigen Orson Welles (1915 – 1985), später durch cineastische Meilensteine wie „Citizen Kane“ und „Der dritte Mann“ als genialer Regisseur und Schauspieler berühmt geworden, inszenierte den Roman als Hörspiel. Welles wollte unbedingt, dass „Der Krieg der Welten“ möglichst realistisch wirkte. Deshalb übertrug er die Handlung in seine aktuelle Zeit und wählte die Heimat des Radiosenders als Schauplatz. Die erste Hörspiel-Version fand er sogar noch zu undramatisch, weshalb Welles unter anderem die Berichte des Reporters über den gewalttätigen Alien in zweiter Fassung zuspitzte. Es gab zwar zu Beginn des Hörspiels eine kleine, von Welles selbst verlesene Einleitung, der zu entnehmen war, dass es sich bei dem folgenden Beitrag um eine Fiktion handeln würde – aber danach kam erst mal für einige Minuten Musik über den Sender. Zuhörer, die sich erst jetzt zuschalteten, hatten kaum eine Chance, der Manipulation zu entgehen. 1938 wurden Radio-Hörspiele nicht aufgezeichnet, sondern live gesprochen und gesendet. Es ist verbürgt, dass Welles (der selbst die Rolle eines der Wissenschaftler sprach), im Spiel fortfuhr, als die Telefonleitung des Senders längst von den Anrufen verängstigter Hörer glühte. Selbst, als die Verantwortlichen der Rundfunkstation den sofortigen Abbruch der Sendung verlangten, überzog Welles die Übertragung noch um satte zehn Minuten.
Das Krönchen für den „Manipulator des Jahres“ verdiente sich Orson Welles abschließend während besagter Pressekonferenz, wo er überzeugend das Unschuldslamm gab (leichte Übung für einen so grandiosen Schauspieler) und sich überhaupt nicht zu erklären vermochte, wieso irgendjemand sein harmloses Hörspiel für tatsächliches Geschehen halten konnte. Die mediale Aufmerksamkeit und der Hype um die „Krieg der Welten“ – Massenpanik spülten Welles direkt nach Hollywood.
Ziel erreicht.
Überlegen Sie es sich also gut, was Sie mit Ihrem Schreibwerk bewirken möchten. Und wen Sie damit erreichen wollen. Man kann sich natürlich auch einreden, es sei einem völlig egal, was die Leute da draußen damit anfangen. Und wenn etwas schiefläuft, ließe sich frei nach Goethe behaupten: Man könne als Autor nichts dafür, wenn Dummköpfe einem das geschriebene Wort verdrehen. Oder man gibt das Unschuldslamm á la Orson Welles und kann sich das alles gar nicht erklären.
Tatsache bleibt, wenn Ihre geschriebenen Worte eine Lawine auslösen: Ohne Sie würde es diese Worte in diesem Kontext nicht geben.
In der Regel ist jeder geschriebene Satz viel treffender als ein gesprochener. Und mit dem gelesenen Satz beschäftigt man sich intensiver als mit einem gehörten.
Glauben Sie nicht? Dann empfehle ich Ihnen ein Selbstexperiment.
Nehmen Sie sich einen ganzen Abend oder Tag Zeit. Schreiben Sie – offen, von Herzen, in Ihren eigenen Worten – Ihrem Schatz einen Liebesbrief.
Und genießen Sie die Lawine.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen
![Foto Cover Goldene Schreibregeln](https://www.tatort-schreibtisch.de/images/goldene-schreibregeln-klein.jpg)
Die Mailadresse lautet
Mehr Infos über das Buch "Goldene Schreibregeln"
E-Book ohne Anmeldung kaufen
Autorenportrait von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Du bist für deine Fantasie verantwortlich. Achtung, Lawinengefahr
von Jan Schröter![FOTO JAN SCHRÖTER](https://www.tatort-schreibtisch.de/images/schroeter-320.jpg)
© Autorenfoto: Hocky Neubert
Sie wollten bloß etwas schreiben. Sie haben sich tatsächlich getraut, das Geschriebene zu veröffentlichen, auf ihrer Webseite oder in ihrem Blog oder als Selfpublisher im Internet. Oder Sie finden sogar einen Buchverlag, eine Filmproduktionsfirma oder eine Zeitungsredaktion, die Ihr Werk herausbringt.
Manchmal beginnt damit ein großes, unerwartetes Problem...
Es gab in meinem Autorenleben eine Phase, während der ich Horoskope für eine wöchentlich erscheinende TV-Programmzeitschrift schrieb. Frei erfunden, gegen Honorar. Harmlose, unspezifische Prognosen. Zwei, drei Sätze pro Sternzeichen, etwa so:
SCHÜTZE: Es gibt dermaßen viel zu tun, dass sich die Frage erhebt, ob man nicht besser erst einmal gar nichts tut – das weitere Vorgehen will gut überlegt sein. Und ein guter Plan bringt langfristig sicher mehr als bloßer Aktionismus.
KREBS: So abgeklärt, wie Sie glauben, sind Sie gar nicht. Sonst würde ein bestimmtes Erlebnis in dieser Woche nicht so einen großen Einfluss auf Ihre Stimmung ausüben können. Getrost mal den Gefühlen nachgeben – das ist keine Schwäche.
Das liest sich ziemlich beliebig. So war es von mir beabsichtigt und von meinen Auftraggebern gewollt. Ich glaube nicht an Horoskope. Erst recht nicht, wenn ich genau weiß, dass der Verfasser – also zum Beispiel ich selbst – sich die Dinger bloß ausgedacht und dafür nicht mal eine Glaskugel befragt hat. Also vermied ich es beim Verfassen meiner Horoskop-Beiträge grundsätzlich, konkrete Katastrophen („Ab Dienstag ist mit plötzlich auftretenden Herzrhythmusstörungen zu rechnen“) oder explizit benannte Glücksfälle („In der Wochenendziehung knacken Sie den Jackpot mit Superzahl, kündigen Sie bitte vorsorglich Ihrem Arbeitgeber“) zu prophezeien. Das, kalkulierte ich, müsste genügen, um zu verhindern, dass irgendwer meine Horoskope ernst nimmt. Schließlich lag es nicht in meiner Absicht, andere Leute zu erschrecken oder ihnen leere Versprechungen zu machen.
Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen rief mich eines Tages ein Mann an, der sich zuvor unter nicht unerheblichem Aufwand meine Telefonnummer besorgt hatte, und zwar in der Redaktion der Illustrierten, für die ich besagte Horoskope schrieb. Er hatte als Leser über Monate hinweg meine Prognosen für sein Sternzeichen verfolgt und war der unbedingten Meinung, alles träfe hundertprozentig auf sein eigenes Dasein zu. Nun wollte er von mir eine private Vorhersage seiner Zukunft und bot eine ansehnliche Summe Geld dafür.
Dass ich offenbar mit meinen vermeintlich harmlosen Horoskopen einen anderen Menschen derartig manipuliert hatte, jagte mir großen Schrecken ein. Ich hatte es nicht absichtlich getan, aber es war trotzdem passiert. Mein Ball aus flauschigen Floskeln war vom Hügel gerollt und unten als Lawine steingemeißelter Dogmen einem Menschen, den ich nicht einmal kannte, um den Verstand geflogen. Für mich war das zu viel Verantwortung. Noch während des Telefongesprächs konnte ich mich aus der peinlichen Situation herausreden, ohne Illusionen zu zerstören. Und bald nach diesem Ereignis fand meine Karriere als Astrologie-Guru ohnehin ein Ende, nachdem meine Auftraggeber eine andere Quelle aufgetan hatten, aus der sie ihre wöchentlichen Horoskope beziehen konnten. Die waren selbstverständlich nicht so schön wie meine, aber honorarfrei.
Obwohl glimpflich verlaufen, überkommt mich seit dem Erlebnis mit dem Horoskop-Jünger immer mal wieder die Furcht davor, jemand könnte sich durch etwas von mir Geschriebenes zu einer Dummheit oder zu Schlimmerem verleiten lassen. Tatsächlich passiert es manchmal, dass ich gerade etwas schreibe (oder geschrieben habe) – und kurz darauf lese ich in der Zeitung oder sehe in den Fernsehnachrichten, dass genau so etwas soeben in der Realität passiert ist. Nur ein Beispiel: Für eine Folge der TV-Krimireihe „Großstadtrevier“ etablierte ich im Drehbuch die Rolle eines Jugendlichen, der Stromkästen kurzschließt, auf diese Weise Ampelanlagen abschaltet und den Straßenverkehr lahmlegt. Kaum war das Drehbuch fertig, kam es in meiner Heimatstadt Hamburg zu einer Serie gleichartiger Vorfälle, Täter: ein Jugendlicher. Zu meiner Entlastung lässt sich anführen, dass mein Drehbuch zu diesem Zeitpunkt zwar geschrieben, aber noch nicht verfilmt war – das geschah erst Monate später. Zum Glück. Sonst hätte ich mich ernsthaft gefragt, ob ich durch meine Geschichte vielleicht einen jungen Kerl auf dumme Ideen gebracht hätte.
Solche Zufälligkeiten erlebt man als Schreibender öfter, wie mir auch mehrfach Kolleginnen und Kollegen bestätigten. Ein befreundeter Autor ist davon überzeugt, dass schreibende Menschen sensibler sind für die Entwicklungen in einer Gesellschaft und daher als Erste auf Ideen kommen, die ans Tageslicht wollen und die sich bald auch allen anderen aufdrängen werden. Daher das Phänomen, dass sich ausgedachte Geschichten in der Wirklichkeit wiederholen. Ich erkläre mir dieses Phänomen so: Man ist als Autor dermaßen von seinem jeweils aktuellen Werk besessen, dass man sofort aufmerkt, wenn einem dazu tatsächliche oder vermeintliche Verbindungen zur Wirklichkeit auffallen.
Aber eine solche Besessenheit vom Erzählstoff stellt sich ja auch beim Buchleser, Filmbetrachter, Radiohörer ein.
Schauen Sie einmal in die Schreibregel Nr. 5. Dort behaupte ich: „Kaum verlässt der Autor den Boden der Tatsachen, beginnt auch des Lesers Fantasie zu arbeiten“. Das ist so. Und das ist eigentlich schön, denn es bedeutet: Kein Leser verhält sich ausschließlich passiv. Er nimmt die Gedankenvorlage der Lektüre auf, baut sie aus, schlägt im Sinn seine eigene Richtung ein. Das bedeutet im Umkehrschluss leider auch: Autoren können unter Umständen durch ihr Werk etwas in Gang setzen, was sie in dieser Konsequenz nie beabsichtigten.
Klassisches Beispiel: Johann Wolfgang von Goethe und sein Roman „Die Leiden des jungen Werther“, erschienen 1774 und eines der erfolgreichsten Bücher der Literaturgeschichte (man spricht sogar vom ersten „Bestseller“ der deutschen Literatur). Es handelt sich inhaltlich um eine tragisch verlaufende Dreiecks-Liebesgeschichte: Der junge Werther verliebt sich in Lotte, die jedoch mit Albert verlobt ist, der sich seinerseits mit Werther anfreundet. Diesem Beziehungsdilemma hält Werther nicht stand, am Ende wählt er für sich den Suizid.
Goethe schrieb diese Geschichte aus persönlichen Motiven: Ein guter Freund von ihm hatte sich wegen der unglücklichen Liebe zu einer verheirateten Frau umgebracht – und der Dichter selbst wollte mit dem „Werther“ auch seine eigene, physisch unerfüllt gebliebene Zuneigung zur bereits anderweitig verlobten Freundin Maximiliane von La Roche verarbeiten. Dafür wählte Goethe die Form eines „Briefromans“. Seine Hauptfigur Werther schreibt Briefe, aus denen der Roman hauptsächlich besteht, und das ist ein ganz besonders abgefeimter Autorentrick. Als Leser öffnet man sozusagen heimlich die Briefe eines zunächst Fremden. Man gewinnt intime Einblicke in die Persönlichkeit des Briefeschreibers. Der existiert zwar nur auf dem Papier, aber dieser Eindruck verwischt sich zunehmend. Irgendwann wird diese fiktive Person zum Vertrauten. Oder zum Leidensgenossen – als solchen empfanden offenbar eine Menge Leser den jungen Werther.
Zunächst kopierten die Fans den modischen Style des Romanhelden. Man trug „Werther-Tracht“: blauer Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste, Lederhose, Stulpenstiefel, auf dem Haupt einen runden Filzhut. Das war harmlos, und Goethe wird es amüsiert haben. Dann jedoch begingen einzelne unglücklich Verliebte Selbstmord und beriefen sich dabei in ihren letzten Botschaften auf den Werther-Roman. Schnell sprach man von einer regelrechten Selbstmordwelle, ausgelöst durch dieses Buch – und das wird Goethe getroffen haben. Als sich im Januar 1778 dann sogar eine junge Frau (Christiane von Laßberg), die Goethe persönlich kannte, in Weimar absichtlich von einer Brücke in die eiskalte Ilm stürzte und man nach dem Auffinden ihrer Leiche entdeckte, dass sie ein Exemplar des „Werther“ bei sich trug, zeigte sich der Dichter schwer erschüttert. Denn das hatte er sicher nicht gewollt, als er den Roman schrieb. Die Schuld an den Werther-motivierten Freitoden sah er trotzdem nicht bei sich. Diesen Standpunkt verfocht er Anklägern gegenüber sogar ziemlich heftig, ohne feingeistige Pietät:
„Und nun wollt Ihr einen Schriftsteller zur Rechenschaft ziehen und ein Werk verdammen, das, durch einige beschränkte Geister falsch aufgefasst, die Welt höchstens von einem Dutzend Dummköpfen und Taugenichtsen befreit hat, die gar nichts besseres tun konnten, als den schwachen Rest ihres bisschen Lichtes vollends auszublasen.“
Der Schriftsteller macht seine Arbeit, meint Goethe damit. Er schreibt seine Geschichte, und wenn die jemand schräg interpretiert – selber schuld. Ich behaupte mal, das hat der Meister aus Weimar in seinem Innersten selbst nicht geglaubt. Wer etwas aufschreibt und veröffentlicht, überlegt sich das sehr genau. Er möchte der Öffentlichkeit etwas mitteilen und hofft, dass diese sich damit gebührend beschäftigt. Er entwickelt fiktive Charaktere. Und je besser ihm das gelingt, umso intensiver sind die Gefühle, mit denen sich das Publikum an die handelnden Figuren und ihre Geschichte bindet und letztlich damit identifiziert. Mit allen Konsequenzen, unter Umständen sogar bis zum Suizid, siehe Werther.
Wäre es jetzt besser gewesen, wenn Goethe seinen Roman niemals geschrieben hätte? Diese Frage verweisen wir an das Philosophie-Seminar und wenden uns einer anderen zu: Was bedeutet das für Sie als Autor?
Erst einmal: Sie sollten keineswegs darauf verzichten, eine Geschichte zu erzählen, Ihre Geschichte, für die Sie brennen. Nur sollten Sie sich dessen bewusst sein, dass sich unter Umständen eine unkontrollierbare Dynamik einstellt, sobald Sie Ihr Werk veröffentlichen. Veröffentlichen bedeutet: aus der Hand geben. In die Freiheit entlassen. Zur Fremd- und Fehlinterpretation freigeben. Möchten Sie das nicht riskieren, verwahren Sie Ihr Geschriebenes besser gut gesichert im Tresor.
Die Geschichte steckt andererseits auch voller Beispiele, die beweisen, dass Autoren in voller Absicht die Gefühle ihres Publikums manipulieren wollen. Man denke an die „Blut-und-Boden“-Dichter im Dritten Reich oder überhaupt an die unfassbar vielen Bücher, Filme, Hörspiele und Pressebeiträge, die nur einem einzigen Zweck dienen: der Propaganda für ein Regime, eine Idee oder eine Gesinnung. In diesen Fällen schreiben die Verfasser aus ideologischer Motivation, und die Lawine, die sie dadurch eventuell auslösen, liegt in ihrer vollen Absicht.
Gar nicht selten jedoch passiert es, dass jemand – ebenfalls in voller Absicht – lustvoll auf die Tonne haut, um mit der provozierten Aufmerksamkeitslawine ganz egoistisch die eigene Karriere anzuschieben.
Auch dazu gibt es eine exemplarische Anekdote.
USA, Ostküste, 30. Oktober 1938, abends. Die Menschen sitzen vor ihren Radiogeräten und lauschen einer Konzertübertragung. Plötzlich verstummt die Musik zugunsten einer „Breaking News“: Man registriere ungewöhnliche Aktivitäten auf dem Mars, rätselhafte Objekte bewegten sich von dort aus rasend schnell in Richtung Erde. Ein Reporter wird zugeschaltet, der sich gerade in einer Sternwarte befindet und dort Wissenschaftler zu den Ereignissen befragt – auch diese Experten sind ratlos. Der Radiosender spielt weiter Musik. Dann wird das Programm für die nächste Horrormeldung unterbrochen: Ein zunehmend panischer Reporter berichtet live von der Landung eines Raumschiffs bei einem Ort namens Grover‘s Mill in New Jersey. Ein Außerirdischer entsteigt, der Reporter beschreibt ihn als eine Art „Bär mit einer Haut wie nasses Leder“. Dieses Monster schießt plötzlich mit einem Feuerstrahl um sich, man hört nur noch grauenhafte Schreie – dann bricht die Reportage unvermittelt ab.
Leicht nachzuvollziehen, dass an dieser Stelle etlichen Radiohörern schlagartig der Feierabend versaut war. Tausende zeigten sich zutiefst besorgt und riefen beim Rundfunksender oder gleich bei der Polizei an. Und nicht wenige Menschen gerieten über die Invasion aus dem All total in Panik, flohen mit Notköfferchen in ihre Autos und bretterten gen Westen.
Erst am übernächsten Tag klärten sich auf einer Pressekonferenz des Senders die Hintergründe.
Die verstörende Reportage sei Teil eines Hörspiels gewesen, basierend auf der damals bereits 40 Jahre alten Geschichte „Der Krieg der Welten“ von H. G. Wells. Diese Geschichte, ursprünglich ein Roman, spielte eigentlich gar nicht in den USA, sondern im viktorianischen England. Der damals erst 23jährigen Orson Welles (1915 – 1985), später durch cineastische Meilensteine wie „Citizen Kane“ und „Der dritte Mann“ als genialer Regisseur und Schauspieler berühmt geworden, inszenierte den Roman als Hörspiel. Welles wollte unbedingt, dass „Der Krieg der Welten“ möglichst realistisch wirkte. Deshalb übertrug er die Handlung in seine aktuelle Zeit und wählte die Heimat des Radiosenders als Schauplatz. Die erste Hörspiel-Version fand er sogar noch zu undramatisch, weshalb Welles unter anderem die Berichte des Reporters über den gewalttätigen Alien in zweiter Fassung zuspitzte. Es gab zwar zu Beginn des Hörspiels eine kleine, von Welles selbst verlesene Einleitung, der zu entnehmen war, dass es sich bei dem folgenden Beitrag um eine Fiktion handeln würde – aber danach kam erst mal für einige Minuten Musik über den Sender. Zuhörer, die sich erst jetzt zuschalteten, hatten kaum eine Chance, der Manipulation zu entgehen. 1938 wurden Radio-Hörspiele nicht aufgezeichnet, sondern live gesprochen und gesendet. Es ist verbürgt, dass Welles (der selbst die Rolle eines der Wissenschaftler sprach), im Spiel fortfuhr, als die Telefonleitung des Senders längst von den Anrufen verängstigter Hörer glühte. Selbst, als die Verantwortlichen der Rundfunkstation den sofortigen Abbruch der Sendung verlangten, überzog Welles die Übertragung noch um satte zehn Minuten.
Das Krönchen für den „Manipulator des Jahres“ verdiente sich Orson Welles abschließend während besagter Pressekonferenz, wo er überzeugend das Unschuldslamm gab (leichte Übung für einen so grandiosen Schauspieler) und sich überhaupt nicht zu erklären vermochte, wieso irgendjemand sein harmloses Hörspiel für tatsächliches Geschehen halten konnte. Die mediale Aufmerksamkeit und der Hype um die „Krieg der Welten“ – Massenpanik spülten Welles direkt nach Hollywood.
Ziel erreicht.
Überlegen Sie es sich also gut, was Sie mit Ihrem Schreibwerk bewirken möchten. Und wen Sie damit erreichen wollen. Man kann sich natürlich auch einreden, es sei einem völlig egal, was die Leute da draußen damit anfangen. Und wenn etwas schiefläuft, ließe sich frei nach Goethe behaupten: Man könne als Autor nichts dafür, wenn Dummköpfe einem das geschriebene Wort verdrehen. Oder man gibt das Unschuldslamm á la Orson Welles und kann sich das alles gar nicht erklären.
Tatsache bleibt, wenn Ihre geschriebenen Worte eine Lawine auslösen: Ohne Sie würde es diese Worte in diesem Kontext nicht geben.
In der Regel ist jeder geschriebene Satz viel treffender als ein gesprochener. Und mit dem gelesenen Satz beschäftigt man sich intensiver als mit einem gehörten.
Glauben Sie nicht? Dann empfehle ich Ihnen ein Selbstexperiment.
Nehmen Sie sich einen ganzen Abend oder Tag Zeit. Schreiben Sie – offen, von Herzen, in Ihren eigenen Worten – Ihrem Schatz einen Liebesbrief.
Und genießen Sie die Lawine.
Diese Regel stammt aus dem Tatort-Schreibtisch-Buch:
Jan Schröters "Goldene Schreibregeln" - 22 Tipps für Autoren und alle, die es werden wollen
![Foto Cover Goldene Schreibregeln](https://www.tatort-schreibtisch.de/images/goldene-schreibregeln-klein.jpg)
Wenn Sie das Buch bestellen möchten, schicken wir Ihnen das Buch versandkostenfrei zu.
Mailen
Sie uns einfach Ihre Bestellung zusammen mit Ihrer Anschrift und Ihrer
Kontoverbindung (IBAN) zu, wir buchen den Rechnungsbetrag von Ihrem
Konto ab. Alternativ bekommen Sie von uns eine Rechnung, damit Sie uns
den Betrag überweisen können.
E-Book ohne Anmeldung kaufen
Autorenportrait von Jan Schröter
© Autorenfoto: Hocky Neubert
weiterlesen
weniger